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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Nacht vor der Scheidung
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Vierzimmerwohnung, und Anna besaß
natürlich ihr eigenes Zimmer mit modernen Möbeln, sie hatte immer von allem
das Beste. Seiner Tochter gegenüber war der Vater so verschwenderisch wie ein
alternder Mann zu einer jungen Geliebten. Ihretwegen machte er Schulden. Als er
mit fünfundsechzig Jahren starb, erfuhren wir, daß dieser würdige
Familienvater, dieser sparsame Bürger, dieser vorzügliche Beamte, der vierzig
Jahre hindurch seinen Dienst vorbildlich versehen hatte und nie Leidenschaften
nachgegeben hatte, der die billigsten Zigaretten rauchte und einen Anzug zehn
Jahre lang trug ... daß dieser alte und strenge Schulinspektor zwanzigtausend
Pengö an Schulden hinterließ. Die Schulden habe ich dann ausgezahlt, das heißt,
ich zahle sie noch heute. Sie bestanden zum größten Teil aus Wechseln dunklen
Ursprungs bei Winkelbanken. All dieses Geld sowie ein erspartes Vermögen und
sein Gehalt hatte er für Anna ausgegeben. Sie wurde in der vornehmsten
Budapester Klosterschule erzogen. Als Weihnachtsgeschenk erhielt sie eine
Perlenkette. Sie trug Mäntel aus Edelpelz und reiste im Sommer mit einer
Freundin in die Schweiz. Ich erfuhr nie, ob der Alte Annas Willen gehorchte
oder ob er selbst ihr diesen Luxus aufdrängte. Gewiß war nur, daß der Vater all
die heimliche Leidenschaft, all die gesparte Zärtlichkeit eines
Lebens an seine erwachsene Tochter verschwendete.
    Als ich Anna kennenlernte, hatte sie
keine Ahnung vom Leben und wußte nicht um den Wert des Geldes. Daheim mußte die
Köchin über jeden Heller Rechenschaft ablegen, aber Annas teure Hüte bezahlte
der Alte ohne Klage mit seliger und kindischer Bereitwilligkeit. Anna lächelte
zu alldem – ein kühles und geistesabwesendes Lächeln, und wie dieses Lächeln
war ihre Art zu sprechen und ihre ganze Haltung. Es war, als würde sie
immerfort an anderes denken als an das, was sie sagte, und anderswohin blicken,
als sie es gerade tat. Niemals hörte ich sie richtig lachen – sie lächelte nur,
und mit diesem Lächeln empfing sie auch mich.«
    Er schüttelt den Kopf und schaut in das
Dunkel. »Über meine Mutter sprach ich erst jetzt mir ihr. Das erstemal!« Dies
sagt er sanft und ohne Vorwurf in der Stimme. »Sie erkundigte sich nie nach
ihr. Vielleicht doch – am Anfang ... Aber ich stammelte damals nur verlegen und
betroffen eine Antwort. Sie verschloß sich sogleich vor dieser Antwort, als
bäte sie um Verzeihung. Anna hatte diesen seltenen Takt, sie spürte, welchem
Bereich der Seele man sich nicht nähern darf, ohne sie zu kränken. Meine
Familie, meine Kindheit, die Mutter, meine sozialen Verhältnisse interessierten
sie nicht. Vielleicht drücke ich mich nicht klar genug aus, wenn ich dies sage,
das klingt so hart und ungerecht ... Sie wich vielmehr taktvoll dieser Art
von Interesse aus. Sie sagte, jeder Mensch habe ein Geheimnis, und dieses
Geheimnis müsse man ihm lassen. Sie hatte eine so selten unbefangene Art, mit
Menschen umzugehen. In ihrer Nähe war man wie neu geboren – als verlören all
die dunklen, trüben, schmerzlichen Erinnerungen der Vergangenheit und der
Jugend im Augenblick der Begegnung mit ihr an Bedeutung. Sie suchte in den
Menschen nicht deren Vergangenheit. Eine Zeitlang dachte ich, dieser Haltung
läge Feigheit zugrunde. Ich glaubte, daß sie sich das Leben ziemlich
kompliziert vorstellte. Ja: Sie verschließt die Augen, will nichts erfahren
und will nur das wissen, was ihr momentan interessant erscheint! Natürlich war
es in Wirklichkeit viel einfacher und doch – auch viel komplizierter –, ja,
schade, daß du Anna nicht kanntest!« Er sagt es leicht und ungezwungen, mit
Bedauern in der Stimme. Regungslos und aufmerksam hört ihm der Richter zu.
»Darüber hinaus hatte ihr Wesen etwas sehr Unbeschwertes ... ein Schweben, eine
Ungebundenheit der Seele ... Sie glich der Musik. Ich – muß achtgeben, ich
sehe, ich könnte mich leicht verirren! Aber ich möchte dir Annas Seele so gern
zeigen – es wird nicht leicht sein. Ich wußte jahrelang gar nichts von ihr. Was
ist das schon: Zusammenleben, Worte – selbstvergessene und wohlüberlegte
Worte, Küsse, Umarmungen, Träume? ... Wenig, sehr wenig. Darüber hinaus müßte
man auch noch etwas wissen! Anfangs war ich glücklich,
daß sie mich in ihrer Nähe duldete. Ich war verliebt ... Auch Anna war es,
sicherlich. Auch das wollte ich dir sagen, denn du kannst es ja nicht wissen:
Auch Anna war es!
    Ich lernte
sie im Frühling kennen, zu Anfang April ... Jede Liebe ist

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