Sandor Marai
Änderung der Farbe und der
Art des Versuchsmaterials im Reagenzglas beobachtet. Anna ist aus einem sehr
widerstandsfähigen Material, sie kann das Experiment ertragen. Das ist nicht
mehr die Höflichkeit und Huldigung des verliebten Mannes allein, das ist auch
nicht nur die aus dem Reichtum der übervollen Seele mit natürlicher
Liebenswürdigkeit entströmende Aufmerksamkeit – mein Werben ist düsterer,
gespannter, fast möchte ich sagen: mechanischer. Etwas von der Anspannung bei
einer sportlichen Leistung liegt darin. So, als stünde im Hintergrund eine
Stoppuhr, die das Sekundenresultat der Leistung zählt. Könnte es denn auch
anders sein? Wir leben in einer Zeit, in der jeder Schlosserlehrling von
Rekorden phantasiert, da auf der Rennbahn und im Spital, in der Politik und im
Laboratorium das Ticken dieser Stoppuhr zu vernehmen ist.
Jedes Tun und Handeln wird immer künstlicher, gespannter, ängstlicher und
hastiger.
Wäre es da nicht auch möglich, daß
die Liebe von dieser Angst und Hast und Angespanntheit erfüllt ist, daß sie
kein Schäferspiel mehr bedeutet, sondern eine Art von Wettkampf? Damals kam
mir das noch nicht in den Sinn – heute erst sehe ich es so. Alles um uns wird
schneller, man kann nicht mehr rasten. Die Gesichtszüge der Menschen sind
versteinert, sind starr. Später, als ich schon etwas über unsere Zeit ahne,
sehe ich oft jedes Gesicht vergrößert und bin bestürzt: Im Antlitz der
Zeitgenossen findet sich selten Selbstvergessenheit und Gelöstheit – es ist das
verzerrte, starräugige, harte Antlitz der Wettläufer. Sie sind es, die solch
düstere Fratzen schneiden auf den Bildern der Wochenschauen, wenn sie schon
hart am Ziel sind, das den Sieg bedeutet und doch vielleicht zugleich auch das
Ende ist. Ich mache einen Rekordlauf um Anna. All meine Zeit gehört ihr, und
ich bin mir bewußt, daß dies wenig ist. Vielleicht wäre es mehr, wenn ich nur
einige Minuten oder Stunden für sie erübrigen könnte, zufällige Zeitabschnitte,
die sich von selbst ergeben. Ich will Anna immer ›alles‹ geben und weiß noch
nicht, daß es manchmal mehr bedeutet, wenn man ohne alle Anspannung gibt,
leicht und selbstverständlich, wie zufällig.
Anna beobachtet mich immer aus
irgendeiner Entfernung,
mit halbgeschlossenen Augen. Die Entfernung ist nicht abzumessen. Nur ich
allein fühle sie ... In Annas Antlitz leben noch Selbstvergessenheit und
Gelöstheit, um ihren Mund blüht das Lächeln, und sie hat es nie eilig. Nie
teilt sie ihre Zeit ein, und so hat sie Zeit zu allem. Ja, aber sie kann mir
doch nicht mehr entfliehen, es ist nicht mehr möglich. Vielleicht will sie es
auch gar nicht. Als wir vom Standesamt kommen, schaue ich mich im Treppenhaus
verlegen um, wie der Wettläufer mit dem Silberpokal in der Hand und dem Kranz
um den Hals. Ich wäre durchaus nicht überrascht, wenn mich ein Sperrfeuer von
Fotografen empfangen würde. Und wahrhaftig! Die Fotografen erwarten uns beim
Tor ... Ich wußte nicht, daß das heutzutage Brauch ist.
Wir
heirateten im Dezember. Es war vor neun Jahren.« Er sagt es sachlich. »Zwei
Monate nachdem du dich vermählt hattest. Im letzten Monat war es Anna, die auf
die Trauung drängte.«
15
Er stellt
sich vor das Bücherbord und nimmt aufs Geratewohl einen Band heraus, blättert
darin und stellt ihn dann auf seinen Platz zurück. »Ein hervorragendes Werk«,
sagt er. »Ja, vor kurzem lebten noch solche Männer wie dieser Mathematiker ...
Was für ein Denker und hervorragender Gelehrter. Kennst du seine Abhandlung
›Vom Wert der Wissenschaft‹? Wenn es dich interessiert, ich kann sie dir
schicken, ich habe sie ja zu Hause.« Wie entschuldigend aber wiederholt er:
»Zu Hause, ja ... aber das gibt es jetzt nicht mehr. Ich muß mich mit dem
Gedanken vertraut machen, daß es nicht mehr existiert. Das Heim, das da ist:
die Möbel, die Bücher, die Briefe in der Schublade. Das alles gibt es nicht
mehr für mich. Das ›Zuhause‹ muß man vergessen.«
Der Richter rührt sich nicht.
Unbeweglich sitzt er im Schatten. Nun sieht einer des andern Gesicht nicht
mehr. »Dieses ›Zuhause‹ war natürlich Annas Werk, denn ihr war es durchaus
wichtig, das Heim für uns zu gestalten. Sie kam gern nach Buda. Kennst du die
Straße, in der wir wohnten? Ganz in der Nähe. Sie
war es, die die Wohnung wählte. Ich mag diese Straße nicht, mochte sie nie. Ich
mochte auch die Gegend nicht, sie war mir fremd, ich hätte lieber in der
Innenstadt gewohnt, in irgendeiner
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