Sandra und das Haus in den Hügeln
Egberts Anwaltsbüro hat mit dem Fall nichts zu tun. Wenn ich dir erzähle, um wen es dabei geht, verstehst du meine Sorge.“
„Was ist passiert?“ fragte Kresser hellhörig.
„Sandra ist verschwunden. Ihr Freund Joschi hat beobachtet, daß sie in einem Kleinbus mit einigen Sektenanhängern weggefahren ist. Und es ist leider zu befürchten, daß dies nicht freiwillig geschah.“
„Sandra?! Die Kleine, die schon ein paarmal Strafverfahren ins Rollen gebracht hat?“
„Genau die!“ bestätigte Florian Seibold. „Eine Freundin von Sandra wird seit einiger Zeit vermißt. Die Angehörigen vermuten, daß sie sich dieser Sekte angeschlossen hat. Sandra war hinter den Leuten her. Verstehst du jetzt, warum ich dich um Hilfe bitte?“
„Und ob, Florian, und ob! Du befürchtest, daß sie in Schwierigkeiten geraten ist. Warum tut sie das nur? Warum überläßt sie es nicht der Polizei, solchen Leuten das Handwerk zu legen. Wir sind schließlich dazu da“, ereiferte sich der Hauptkommissar.
„In diesem Fall seid ihr ziemlich machtlos, fürchte ich“, widersprach ihm Herr Seibold. „Sandras Freundin — eigentlich ist sie die Schwester einer Schulkameradin — ist achtzehn und damit volljährig. Sie kann tun und lassen, was sie will, sich also auch einer Sekte anschließen, und ihr dürft da nicht eingreifen. Sollten diese Leute Sandra jedoch entführt haben und sie gegen ihren Willen oder gegen den Willen ihrer Mutter bei sich behalten, ist die Polizei durchaus berechtigt und in der Lage, das Mädchen nach Hause zurückzubringen.“
„Ja, du hast recht, Florian“, gab Kresser zu. „Ich werde mich mit dem Chef des Dezernats in Verbindung setzen. Kannst du mir irgendwelche Hinweise geben? Gibt es Anhaltspunkte? Wo wohnen diese Leute?“
„Das möchte ich von dir wissen! Die Gruppe treibt sich seit zwei Wochen auf dem Weihnachtsmarkt herum. Es soll Raufereien mit Passanten gegeben haben. Dabei wurden Tageskassen gestohlen. Am besten hakst du in dieser Richtung einmal nach. Die Beschreibung des Kleinbusses und des Sektenführers kann ich dir durchgeben. Es gibt da auch einen Parkwächter, dem der Bus wegen Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit auffiel. Ihr findet den Mann hinter der Marienkirche.“
„In Ordnung, Florian. Ich kümmere mich darum“, versprach Hauptkommissar Kresser seinem Freund.
Kein leichtes Leben als Sendbote
Der Kleinbus rumpelte über die Landstraße.
Mit einem Blick auf das Leuchtzifferblatt ihrer Armbanduhr stellte Sandra fest, daß sie seit mehr als zwei Stunden unterwegs waren.
Doch Sandra vermutete, daß sie sich dennoch nicht weiter als höchstens achtzig bis hundert Kilometer von der Stadt entfernt hatten, denn sie fuhren langsam, streckenweise im Schrittempo. Nebel war aufgekommen. Dichte Schwaden türmten sich wie Kalksteingebirge vor und hinter ihnen auf und ließen die Wälder rechts und links der Straße wie Schattenbilder erscheinen.
Mehrmals waren sie durch kleine und größere Ortschaften gekommen. Doch die Neonleuchten der Geschäftsreklamen verschwammen im Nebel genauso wie die Straßenschilder, die nicht zu erkennen waren. Es gab nichts, das Sandra einen Hinweis darauf hätte geben können, wo sie sich befand oder in welcher Richtung sie fuhren. Der Nebel löste alles auf. Und weder Rocho, der rothaarige Sektenführer, noch Debora, das Mädchen neben ihm, waren bereit, Sandra aufzuklären.
Sie sprachen überhaupt nicht mit ihr. Was Sandra auch sagte oder fragte, ihre Worte schienen ins Leere gesprochen zu sein.
An dem dunklen Dröhnen des Motors erkannte Sandra, daß sie sich seit einiger Zeit auf einer Straße bewegten, die stetig anstieg.
Plötzlich riß der dichte Nebelvorhang auf.
In der Ferne schimmerten die Lichter eines Dorfes durch die Dunkelheit des Winterabends.
Weit vor dem Ortseingang verließen sie die Landstraße und bogen in einen Feldweg ein. Sie umfuhren den Ort, und Sandra zerbrach sich zunächst vergeblich den Kopf über diese Maßnahme, denn hinter der Ortschaft schwenkte der Kleinbus in einen anderen Feldweg ein, der zur ursprünglichen Landstraße zurückführte.
Wozu dieser Umweg? fragte sich Sandra beunruhigt.
Dann fiel ihr ein, daß sich vor jedem Dorf ein Ortsschild befand. Der Rothaarige will verhindern, daß ich erfahre, wohin er mich bringt! Was hat er mit mir vor? dachte Sandra erregt.
Doch sie kam nicht mehr dazu, eine Antwort auf diese Frage zu suchen. Der Bus holperte durch eine offenstehende Toreinfahrt in einen
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