Sandra und das Haus in den Hügeln
hast du Sandra, wie du sagst, in dem Bus sitzen sehen. Wenn jemand gegen seinen Willen mitgenommen wird, muß man ihn vorher ja wohl kampfunfähig machen, nicht wahr?“ polterte Herr Seibold. „Also, ich meine, du hast dich versehen“, fuhr er fort. „Die Beobachtungen dieses Parkwächters klingen auch recht ungenau, und ich bezweifle, daß es sich bei dem Kleinbusfahrer um den Sektenführer handelte.“
„Und wo ist Sandra, bitte?“ fragte Joschi schlicht.
„Hm“, brummte Herr Seibold.
Joschi konnte ihn fast greifbar vor sich sehen — die hohe Stirn nachdenklich gerunzelt, die scharfblickenden Augen hinter der Lesebrille auf seine Dackelhündin Susi gerichtet, die gewiß wie gewöhnlich zu seinen Füßen lag und ergeben zu ihrem Herrn aufschaute.
„Ach, sie wird sich irgendwo auf dem Markt herumtreiben“, vermutete Herr Seibold.
„Nicht so lange! Nicht zwei Stunden über unsere Verabredung hinaus“, widersprach Joschi heftig.
„Aber der Sektenführer läßt seine Gruppe doch nicht auf dem Weihnachtsmarkt zurück. Welchen Grund sollte er dafür haben?“
„Ich habe Ihnen von den Kassendiebstählen erzählt
„Das ist doch eine ganz andere Geschichte. Ich sehe da absolut keinen Zusammenhang“, unterbrach ihn Herr Seibold gereizt.
„Ja, wenn Sie meinen“, sagte Joschi enttäuscht. „Bitte, würden Sie dann wenigstens Frau Ansbach schonend beibringen, daß Sandra verschwunden ist? Und vielleicht auch ihre Mutter benachrichtigen? Ich kann das nicht“, bat Joschi.
„Sag mal, Junge, du bist ja ganz fest davon überzeugt, daß Sandra etwas zugestoßen ist“, stellte Herr Seibold erschrocken fest. „Bist du nicht etwas voreilig? Ich vermute, daß Sandra längst zu Hause ist.“
„Ich kenne Sandra besser als Sie“, erwiderte Joschi nur.
„Ja, Kruzitürken noch einmal! Was macht sie denn wieder für Geschichten!“ donnerte Herr Seibold los und erschreckte damit Susi, die kläffend aufsprang.
„Hör mal, Joschi“, sagte Herr Seibold, nachdem er sich wieder etwas beruhigt hatte. „Ich rufe jetzt bei Sandra an. Du legst den Hörer auf, wartest ein, zwei Minuten und meldest dich dann wieder bei mir, ja?“
Ohne Joschis Antwort abzuwarten, legte Herr Seibold den Hörer auf.
Joschi verließ die Telefonzelle, um dem Mann, der schon eine Weile ungeduldig draußen auf und ab ging, Gelegenheit zum Telefonieren zu geben.
Mit einem vorwurfsvollen: „Wo warst du denn so lange?“ meldete sich Herr Seibold, als Joschi eine Viertelstunde später erneut bei ihm anrief.
„Noch einmal an unserem Stand, wo Sandra sich mit mir treffen wollte“, erwiderte Joschi. „Sie war nicht da und ist auch nicht dort gewesen. Und zu Hause ist sie auch nicht, stimmt’s?“ sagte Joschi gereizt.
„Es meldete sich niemand“, gab Herr Seibold zu.
„Wußte ich. Die Mühe hätten Sie sich sparen können. Und was wird jetzt? Wir müssen doch etwas unternehmen“, sagte Joschi heftig.
„Langsam, langsam! Sandra hat also einen Ausflug unternommen. Sehen wir es einmal so, Joschi, ja? Immer vorausgesetzt, es war Sandra, die in dem Kleinbus saß. Könnte es nicht so sein, daß Sandra den Sektenführer bat, ihn zu Jutta zu bringen, nachdem sie von ihm erfahren hatte, daß Jutta bei der Sekte lebt? Schließlich ist Sandra hinter dem Rothaarigen hergelaufen, um etwas über Juttas Verschwinden herauszufinden.“
„So könnte es gewesen sein“, räumte Joschi ein. „Ich halte es aber nicht für wahrscheinlich. Denn, wenn die Sekte Juttas Aufenthaltsort bekanntgeben wollte, hätte Jutta ihn längst ihren Eltern mitgeteilt. Sandra wäre auch nie so rücksichtslos, fortzufahren, ohne es mir zu sagen. Sie weiß, daß ich mich um sie sorge, wenn ich keine Ahnung habe, wo sie geblieben ist. Sandra kann sich in meine Lage versetzen. Umgekehrt wäre es genauso. Sandra würde es mir nie verzeihen, wenn sie sich stundenlang grundlos um mich hätte ängstigen müssen. Wir tun so etwas einander nicht an. Wir lieben uns!“ entfuhr es Joschi, und er gab damit ein Geheimnis preis, das ihm normalerweise nie über die Lippen gekommen wäre.
Der alte Rechtsanwalt wußte das. Er kannte Joschis Empfindsamkeit und wußte, wie sorgsam er stets seine Gefühle zu verbergen suchte.
Deshalb erschrak er über Joschis Gefühlsausbruch, denn dies machte ihm klar, in welch verzweifeltem Zustand Joschi sich befand. Außerdem neigte Joschi nicht dazu, irgendwelche Vorkommnisse zu dramatisieren. Sein Gefühl mußte ihm also sagen, daß Sandra
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