Sandra und das Haus in den Hügeln
kopfsteingepflasterten Bauernhof.
Rocho chauffierte den Wagen durch ein zweites offenes Tor in eine riesige Scheune, in der bereits ein anderer Kleinbus stand. Er zog die Handbremse an und stellte den Motor ab.
Debora stieg schwerfällig aus. Die linke Hand hielt sie auf ihren Leib gepreßt, mit der rechten stützte sie sich am Türgriff ab.
Der Sektenführer drehte sich zu Sandra um und sagte feierlich: „Willkommen bei deinen Brüdern und Schwestern im Herrn. Halleluja, Sandra!“
„Halleluja!“ erwiderte Sandra. Denn sie sagte sich: Ich passe mich besser ihren Gepflogenheiten an, sonst kriege ich noch Ärger, nehme sie gegen mich ein und widerlege meine eigene Behauptung, daß ich eine religiöse Waise sei.
Das erfreute Lächeln des Sektenführers bestätigte Sandra, daß ihre Überlegung richtig war.
Rocho schloß die hohen, schweren Scheunentore, und Sandra folgte ihm zur Straße zurück.
Das Haus der Sektierer war ein alleinstehendes Gehöft.
Eine ausgetretene Steintreppe führte zum Hauseingang. Die Fenster des Hauses hatten keine Fensterläden. Aus den Fenstern des Erdgeschosses sickerte Licht aus mehreren Ritzen. Erst drinnen erkannte Sandra, daß die Fenster mit groben, grauen Wolldecken verhangen waren, die teilweise durchlöchert schienen.
Rocho klopfte rhythmisch an die dicke Eichentür.
Sandra hörte, wie drinnen ein Schlüssel umgedreht wurde. Ein Mädchen in einem fußlangen Baumwollkleid öffnete ihnen. Licht fiel auf die Tür, und Sandra konnte die Schrift auf der Holztafel lesen, die an der Außenseite der Tür angebracht war: „Trainingszentrum der Sendboten des Herrn“. So also nannte sich die Sekte: Sendboten des Herrn! Sandra und Joschi hatten ihr den Namen „Halleluja-Singer“ gegeben, weil die Sendboten so oft Halleluja riefen.
„Das ist Kyra“, stellte Rocho das Mädchen vor.
Kyra umarmte Sandra, küßte sie auf beide Wangen und zog sie ins Haus.
Sandra stand in einem großen, rechteckigen Raum, der die ganze vordere Breitseite des Hauses einnahm. Sie sah in einer Ecke eine zerschlissene Couch, mehrere mit Kissen belegte Holzkisten, eine Regalwand voll Bücher, einen kleinen Tisch, auf dem ein Plattenspieler stand, religiöse Poster an den Wänden und einen nackten Steinfußboden. Der Raum wirkte sauber und unbewohnt.
Eine in der rückwärtigen Wand gegenüber dem Hauseingang befindliche Tür wurde geöffnet. Aus dem dahinterliegenden dunklen Flur strömten Mädchen und Jungen herein. Sie liefen auf Sandra zu, umarmten und küßten sie und riefen: „Willkommen im Hause des Herrn, Schwester! Halleluja!“
Jemand stellte den Plattenspieler an. Religiöse indische Musik dröhnte durch das Zimmer und wurde trotz der enormen Lautstärke noch von den Stimmen der Hausbewohner übertönt, die die schönen Melodien begeistert mitsangen.
Sandra hatte noch nie eine so verrückte, fröhliche Gruppe erlebt. Sie blickte in junge, heitere Gesichter. Und sie dachte verwundert: Vielleicht ist diese Organisation ganz harmlos? Vielleicht finden diese Mädchen und Jungen hier wirklich das, was sie sich von ihrem Elternhaus vergebens erhoffen — Freundschaft, Gemeinschaft, Geborgenheit?
Doch je länger sie die Tanzenden beobachtete, um so mehr fielen ihr die ausgezehrten Gesichter auf. Und in einigen glaubte sie Verzweiflung, in anderen eine Art von trunkenem Fanatismus zu erkennen. Sandra erinnerte sich an das, was Frau Klabusch der Klasse über die Probleme der Jugendlichen und über die Machenschaften einiger dieser Sekten erzählt hatte.
Frau Klabusch hatte behauptet, daß fast alle jungen Menschen irgendwann einmal das Gefühl erleben, allein gelassen zu sein, daß sie sich zurückgestoßen und unverstanden fühlen und sich nach einer Gemeinschaft sehnen, die sie versteht, die ihre Sprache spricht und ihre Probleme lösen hilft.
Und genau da haken diese Sektierer ein. Sie versprechen den hilfesuchenden Jugendlichen alles das, was sie in ihrem Elternhaus vermissen. In Wahrheit aber nützen sie das Unverstandensein und die Sehnsucht nach Liebe der jungen Menschen nur für ihre Zwecke aus. Wenn sie erst einmal von skrupellosen, berechnenden und psychologisch geschulten Sektierern mit psychischem Druck bearbeitet worden sind, verlieren sie ihren Realitätssinn und alle Maßstäbe und tun alles, was man ihnen befiehlt. Natürlich gibt es auch seriöse, ernstzunehmende Gruppen und Sekten, hatte Frau Klabusch betont, die echte Lebenshilfen bieten und Ratsuchende in selbstloser Weise
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