Sandra und das Haus in den Hügeln
komme.“
Der Hausvater blickte Sandra eine Weile schweigend an. Dann sagte er beschwichtigend: „Beunruhige dich deswegen nicht. Du wirst dich bei uns wohl fühlen. Wir sind bereit, dir deine Familie zu ersetzen. Du wirst sehen, daß alle deine Probleme, wie schwerwiegend sie auch sind, von dir genommen werden. Gib wenigstens deine Personalien auf dem Fragebogen an, damit wir erfahren, wo du wohnst. Wir werden dann deine Mutter benachrichtigen.“
Der ist ja wirklich hartnäckig, ärgerte sich Sandra.
Sie hatte genug von der Diskussion. Außerdem war sie hungrig. Und wenn Sandra Hunger hatte, wurde sie gereizt.
Sie sagte: „Ich sehe nicht ein, weshalb ich dazu den Fragebogen ausfüllen sollte^ Es ist besser, wenn ich meine Mutter selbst anrufe, sonst rennt sie womöglich zur Polizei. Ich bin nämlich noch keine achtzehn.“
Der Hausvater sprang auf, eilte mit wütender Miene zur Tür und brüllte ganz unchristlich: „Rocho, verdammt noch mal! Komm sofort in mein Büro!“
Doch als er sich zu Sandra umwandte, wirkte sein Gesicht wieder freundlich. Väterlich sagte er: „Geh zu den anderen, mein Kind. Wir werden uns später noch einmal unterhalten.“
Sandra ging hinaus und an dem zum Büro stürzenden Rocho vorbei zu dem großen Versammlungsraum, wo einige der Mädchen noch immer tanzten.
Eine Überraschung erwartete sie dort.
Aus einer Gruppe, die auf der Couch saß und laut miteinander diskutierte, löste sich ein Mädchen und kam mit ausgebreiteten Armen auf Sandra zu, die unschlüssig an der Tür stehengeblieben war.
„Sandra! Sandra, bist du es wirklich? Nein, wie ich mich freue!“
Es war Jutta, die Sandra umarmte und küßte.
„Jutta, Menschenskind, was machst du für Sachen?“ war alles, was Sandra vor Überraschung herausbringen konnte.
„Ich heiße jetzt Judith“, sagte Jutta strahlend. Sie faßte Sandra bei den Händen und zog sie mit sich in die Ecke neben den Kachelofen, wo das Dröhnen aus dem Plattenspieler erträglicher war.
„Erzähle, wie hast du zu uns gefunden? Wer hat dich errettet?“
„Willst du nicht lieber wissen, wie es deinen Eltern geht, Jutta?“
„Judith“, berichtigte Jutta heiter.
Sandra überhörte ihren Einwand. „Dein plötzliches Verschwinden war ein Schock für sie. Kannst du dir nicht vorstellen, was bei euch los ist? Deine Mutter ist in einer Nervenkrise“, sagte sie vorwurfsvoll.
„Warum denn das? Ich habe ihnen doch mitgeteilt, wie glücklich ich jetzt bin. Freuen sie sich nicht darüber?“ Sie schlug sich an die Stirn. „Ich vergesse immer noch, wie weit entfernt meine Familie vom Herrn ist. Halleluja!“
„Das meinst du nicht im Ernst, Jutta!“ sagte Sandra erschüttert.
„Judith, bitte“, mahnte Jutta lächelnd. „Sobald wir errettet sind, legen wir unseren früheren Namen ab. Es soll nichts mehr geben, das uns an das erinnert, was wir einmal gewesen sind. Wir sind jetzt nur noch Dienerinnen des Herrn. Halleluja! Also, bitte, nenne mich Judith!“
„Von mir aus, Jutta-Judith! Ich bin deinetwegen hier.“
„Meinetwegen? Das verstehe ich nicht.“
Sandra betrachtete Jutta, die nicht nur ihren Namen gewechselt zu haben schien, sondern auch einer Gehirnwäsche unterzogen worden war. Erfolgreich, wie Sandra fürchtete.
Sandra atmete tief und heftig ein und aus.
Sie war sich zunächst nicht im klaren darüber, wieviel sie Jutta-Judith erzählen durfte, ohne sich selbst zu gefährden. Den Hausvater hatte sie schon verärgert. Rocho würde wütend auf sie sein, nachdem er ihretwegen einen Anraunzer vom Chef einstecken mußte.
Sandra sagte sich, daß sie besser vorsichtig sein und ihre Zunge hüten sollte.
Sie mußte zunächst herausfmden, ob Jutta-Judith ihr Theater vorspielte, weil sie ebenfalls Angst hatte, oder ob sie tatsächlich in der kurzen Zeit so hundertprozentig umgepolt worden war.
„Deine Schwester Doris hat mich auf die Familie aufmerksam gemacht. Unsere Schulkameradin Ingrid hat gesehen, wie du vor zwei Wochen mit Rocho den Weihnachtsmarkt verlassen hast. Das machte mich neugierig. Du kennst mich ja. Ich dachte, was mag das für eine Sekte sein? Ich kaufte mir eine von euren Missionsschriften. Was da stand, hat mir gefallen. Da habe ich heute Rocho angesprochen. Ich wollte wissen, ob du bei ihnen lebst, und wie das hier so ist. Er hat mich... eingeladen, mitzukommen“, erzählte Sandra der aufmerksam lauschenden Jutta.
„Ich weiß aber noch nicht, ob ich bleiben möchte. Es ist auch nicht sicher, ob ich bleiben
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