Sandra und das Haus in den Hügeln
wegfahren würde. War er schon zurück?“
„Ja, ja, deine Mutter erzählte, Joschi habe sich geärgert, weil er seine Schwester verlor. Aber nun ist er beruhigt. Ich hörte, wie deine Mutter mit ihm sprach.“
Joschi hat keine Schwester, und mein Bruder heißt Rainer und ist heute abend garantiert mit seiner Freundin Eva unterwegs. Du lügst mich an! Du hast gar nicht angerufen, dachte Sandra. Laut sagte sie: „Vielen Dank, Hausvater.“ Und schloß die Tür.
Draußen stand noch immer Daniel.
Doch auch als sie jetzt gemeinsam zum Gebetsraum zurückgingen, machte er nicht den Versuch, Sandra zu küssen. Was will er nur von mir? fragte sich Sandra.
Plötzlich wußte sie es! Es war Sandra schon im Laufe des Abends aufgefallen, daß sie keine Sekunde allein bleiben konnte. Sogar als sie vor dem Abendessen die Toilette aufsuchte, deren Fenster übrigens vergittert war, hatte ein Mädchen sie begleitet. Das Mädchen blieb im Waschraum stehen und wartete auf Sandra, während diese sich die Hände wusch.
Sandra hatte angenommen, daß es ein zufälliges Zusammentreffen sei, und daß das Mädchen freundlich zu ihr sein wollte, um ihr die Eingewöhnung in die Familie zu erleichtern.
Doch nun, da sich Daniel genauso hartnäckig an ihre Fersen heftete, wurde ihr klar, daß System darin lag. Man beschattete sie! Die Sendboten hatten Anweisung erhalten, Sandra zu überwachen!
Sandra beschloß, sich Gewißheit zu verschaffen.
Sie durchquerte zielstrebig den Gebetsraum und ging auf die Haustür zu.
Niemand folgte ihr!
Doch als sie die Haustür erreicht hatte, sah sie, weshalb man sich dieser Mühe nicht unterzog: die Haustür war verschlossen! Der Schlüssel steckte nicht mehr im Schloß.
Trotzig ging Sandra zum Hinterausgang zurück, doch diesen erreichte sie nicht, ohne einen Begleitschutz mobil zu machen. Wie aus dem Boden gewachsen stand Debora, die vor einer Sekunde noch am Kachelofen hockte, neben ihr. „Hast du einen Wunsch?“ fragte sie und lächelte süß.
„Allerdings!“ schnaubte Sandra. „Ich möchte in den Hof, frische Luft schnappen. Es riecht so muffig hier drin.“
„Der Hausvater wünscht nicht, daß jemand bei Dunkelheit hinausgeht“, wurde sie von Debora belehrt.
„Gilt das für alle — oder nur für mich?“
Debora blickte sie verständnislos an. „Was hast du, Schwester? Fühlst du dich nicht wohl?“ fragte sie sanft.
„Nein, und deshalb möchte ich an die Luft. Du kannst ja mitkommen, wenn du wissen mußt, was ich draußen treibe.“
Debora legte ihre Hand auf Sandras Schulter. „Bitte, verärgere den Hausvater nicht. Er allein weiß, was gut für uns ist. Der Herr hat ihn zu unserem Schutz bestellt. Halleluja! Wir müssen uns seinen Anordnungen fügen.“
Die tönen hier alle so geschwollen, als ob sie in einem mittelalterlichen Schloß aufgewachsen wären und nicht in normalen Familien mit Brüdern und Schwestern und Freunden, die reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, dachte Sandra.
„Ihr kotzt mich an!“ sagte sie, sich mit einem heftigen Ruck von Deboras Hand befreiend.
„Aus dir spricht der Satan, Schwester!“ jammerte Debora.
„Nein, ganz allein ich“, widersprach Sandra.
Plötzlich stand Rocho neben ihnen. „Was gibt es, Debora?“
Sandra kam Debora zuvor. „Ich wollte nur mal eben nach draußen. Aber Debora sagte, das dürfte ich nicht. Also bleibe ich hier“, berichtete ihm Sandra rasch. Sie streichelte Deboras Arm. „Ich war unfreundlich zu dir. Verzeih mir.“
Rocho blickte mißtrauisch von ihr zu Debora. Doch da Debora schwieg, nahm er Sandras Erklärung hin und ging zu seinem Platz zurück.
„Ich war anfangs genauso wie du. Ich verstehe dich, Sandra. Erst im Trainingslager habe ich gelernt, mein Temperament zu zügeln und mich den Gesetzen der Familie zu unterwerfen. Es ist eine Art Läuterungsprozeß, dem wir uns unterziehen müssen. Meditiere, Schwester, das wird dir helfen, deine Schwächen zu bekämpfen“, sagte Debora verständnisvoll.
Sie haben deine Persönlichkeit gebrochen und eine willenlose Marionette aus dir gemacht, dachte Sandra mitleidig. Sie lächelte Debora zu und hoffte auf die Nacht. Wenn alle schliefen, würde sie einen Weg finden, diese Festung zu verlassen.
Doch noch gab es keine Nachtruhe.
Bis um elf Uhr dauerte ein Vortrag, den Rocho über transzendentale Meditation, kurz TM genannt, hielt.
Endlich wurden die Kerzen gelöscht.
Taumelnd vor Erschöpfung verließen die Sendboten Gottes den Raum und suchten ihre
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