Sandra und das Haus in den Hügeln
Telefonnummer auf einen Zettel, bedankte sich und verließ das Büro.
Draußen stieß sie fast mit einem Mädchen zusammen, das die Treppe vom Obergeschoß heruntersprang. Die Treppenbeleuchtung war eingeschaltet, und Sandra sah, daß es Debora war. „Wo ist Judith?“ fragte Sandra.
„Im Gebetsraum vermutlich. Die Abendmeditation beginnt in zehn Minuten.“
Schon wieder meditieren? Wer hält das aus! dachte Sandra entsetzt.
Sie begleitete Debora in den Gebetsraum, wobei sie verwundert bemerkte, daß Debora, die ihre Jeans mit dem hier üblichen knöchellangen Baumwollkittel vertauscht hatte, genauso mager wie alle anderen Mädchen in diesem Haus war.
Und ich hätte schwören mögen, daß sie schwanger ist, dachte Sandra. Wo ist ihr Bauch geblieben? Und die vorsichtige. Art, in der sie aus dem Kleinbus stieg? Ich weiß doch, was ich gesehen habe! Das gibt es doch nicht, daß ich mich so täuschen kann.
„Hör mal, ich habe Debora für schwanger gehalten“, überfiel sie Jutta-Judith, als sie diese gefunden hatte.
„Schwanger!?“ Jutta-Judith schien entrüstet zu sein. „Es ist uns verboten, vor der Ehe miteinander zu schlafen.“
„Vielleicht ist sie heimlich verheiratet?“
„Hier leben keine Ehe- und keine Liebespaare. Um die Erlaubnis zum Heiraten zu bekommen, muß man sich vorher einem strengen Training unterziehen. Nur die Besten von uns dürfen mit dieser Auszeichnung rechnen.“
Sandra deutete auf ein Pärchen, das sich in einer Ecke küßte. „Und was ist mit denen?“ fragte sie.
Jutta-Judith lachte hellauf. „Sie schmusen miteinander. Das ist hier ganz natürlich und hat mit Sex nichts zu tun. Wir lieben uns. Wir sind eine große Familie. Wer sich einsam fühlt, muß gestreichelt werden, das ist hier ein Gebot.“
„Vom Schmusen allein kriegt man kein Kind“, erwiderte Sandra grimmig. „Als wir heute nachmittag herfuhren, sah Debora schwanger aus, das kannst du mir glauben oder nicht. Sie stieg so schwerfällig aus dem Bus und hielt so behutsam ihren Bauch, als ob sie um ihr Baby fürchtete, dem die holperige Fahrt nicht bekam.“
Jutta-Judith blickte sie mit einem merkwürdigen Blick an, den Sandra nicht zu deuten wußte.
„Ist was?“ fragte sie verwirrt.
„Du machst dir zu viele Gedanken. Kümmere dich nicht um Dinge, die dich noch nichts angehen. Und halte vor allem deinen Mund“, warnte Jutta-Judith eisig. Sie ließ Sandra stehen und ging in die Küche.
Was sind das für Geheimnisse, von denen ich mich fernhalten soll? fragte sich Sandra interessiert. Und sie dachte: Tut mir leid, liebe Jutta! Gerade deshalb bin ich ja immer noch hier, um zu ergründen, was bei euch wirklich vorgeht. Wenn Debora kein Kind kriegt, dann möchte ich wissen, was sie so sorgsam unter ihrem weiten Umhang verborgen hielt. Und ich finde es heraus!
Sie schlenderte zu der Gruppe, die vor dem Kachelofen auf dem Boden hockte, und zu der auch Debora gehörte. „Was treiben wir denn heute abend?“ fragte Sandra weiter.
„Meditieren“, erhielt sie zur Antwort.
„Und wann geht ihr schlafen?“
„Wenn der Hausvater es befiehlt.“
Ach, herrje! Ich hoffte schon, ich könnte bald an der Matratze horchen, damit ich meinen Hunger verschlafe. Aber damit scheint es so bald nichts zu werden, dachte Sandra. Und ich hatte mir vorgenommen, über Weihnachten zu fasten, um meine Linie nicht zu gefährden. Damit hätte ich meiner Mutter fast das Herz gebrochen. Dabei gehe ich jetzt schon vor Hunger ein.
Mama! dachte sie.
Sie lief zur Tür, um den Hausvater noch einmal in seinem Büro aufzusuchen und zu erfahren, ob er mit ihrer Mutter gesprochen hatte.
Doch kaum hatte sie die Türklinke in der Hand, da stand Daniel neben ihr. „Wo willst du hin?“
„Ins Büro.“
„Ich begleite dich.“
„Das ist nicht nötig. Ich kenne den Weg.“
Daniel lächelte sie an. „Ich begleite dich trotzdem.“
Ob er mich im dunklen Flur küssen will? fragte sich Sandra.
Sie eilte mit schnellen Schritten vor Daniel her, klopfte kurz an und öffnete die Bürotür.
„Es ist alles in Ordnung!“ rief ihr der Hausvater entgegen. „Deine Mutter freut sich, daß du mit netten jungen Leuten zusammen bist. Du möchtest deinen Wochenendausflug genießen, läßt sie dir ausrichten.“
Das klingt aber nicht nach meiner Mutter, stellte Sandra fest. „Was hat sie sonst noch gesagt? Hat sie Joschi erwähnt? Wir waren nämlich auf dem Weihnachtsmarkt zusammen, und ich hatte keine Gelegenheit, ihm zu sagen, daß ich
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