Sandra und die Stimme der Fremden
geübter, weil er doch Rechtsanwalt war. Joschi und ich tippen die Briefe...“
Die Tür wurde geöffnet. Die Katzen-Marie stapfte herein. Sie hatte ihr graues Seidenkleid angezogen und den fehlenden obersten Knopf mit einer goldenen Brosche ersetzt.
Der Doktor stand auf und stellte sich ihr vor.
Die Katzen-Marie setzte sich kerzengerade auf den Diwan. Sie breitete eine karierte Wolldecke über ihre Knie, die bis zum Boden fiel und die ausgetretenen Hausschuhe an den ständig geschwollenen Füßen verbarg. Sie wirkte sehr überlegen und konzentriert.
„Sandra, koch Kaffee und bring Marmelade, Quark und Schwarzbrot für den Herrn Doktor“, sagte sie.
„Aber, bitte! Aber wirklich nicht!“ wehrte der Doktor überrascht und entsetzt ab.
Doch Frau Arnold fiel ihm energisch ins Wort: „Wer mich besucht, wird auch von mir bewirtet. Sie möchten sich doch mit mir unterhalten, nicht? Also brauchen Sie auch eine Stärkung. Sandra...!“
Sandra ging hinaus und ließ die Tür zwischen Küche und Wohnzimmer angelehnt.
Der Doktor stand auf und schloß die Tür.
Sandra setzte Kaffeewasser auf. Dann ging sie hinaus, um Joschi zu suchen.
Sie fand ihn mit Michael, der inzwischen gekommen war, in der Scheune, wo sie Heu für die Hasen von der Tenne holten. Plus lag neben der Leiter und sah ihnen zu.
„Grüß dich, Michael! Weshalb ist Plus nicht drin?“ rief Sandra.
„Weil er heulte. Frau Arnold meinte, es sei besser, ihn in den Hof zu lassen“, erwiderte Joschi.
„Solange ich hier bin, jagt er keine Hühner. Ich passe auf“, sagte Michael. Er kam mit einem Bündel Heu die Leiter herab. „Wie sieht’s drin aus?“
„Man hat mich in die Küche geschickt. Ich soll Kaffee kochen.“
„Nicht schlecht“, meinte Michael. „Dann läßt der Seelenklempner mit sich reden?“
„Er war gegen den Kaffee“, sagte Sandra und verzog angewidert das Gesicht.
„Wenn er die alte Frau zwingt, ihr Haus zu verlassen und sie irgendwo einweist, verdresche ich ihn“, drohte Michael.
„Nimm dir lieber den vor, der ihn dazu veranlaßt hat“, sagte Joschi, der ebenfalls mit einem Arm voll Heu die Tenne verließ.
„Damit würdest du nur dir selber schaden, Michael“, warnte Sandra. „Was sagt Herr Seibold, Joschi?“
„Deine Großmutter hat mich nicht zu ihm gelassen. Es würde ihn aufregen, meint sie. Sie will die Referendarin in der Kanzlei von Dr. Seibold anrufen, damit sie sich mit dem Gesundheitsamt in Verbindung setzt. Mehr könne auch Herr Seibold im Moment nicht tun, sagte sie.“
Der Wasserkessel pfiff durchdringend.
„Der Kaffee!“ sagte Sandra und lief ins Haus.
Sie hörte den Psychiater lebhaft mit Frau Arnold reden. Sandra brühte den Kaffee auf, stellte das Geschirr auf ein Tablett, klopfte an die Tür und ging hinein, um den Tisch zu decken.
Der Doktor saß mit übereinandergeschlagenen Beinen entspannt auf seinem Stuhl und hörte der Katzen-Marie zu, die Wundertaten von ihren Tieren erzählte.
„...und dann blickte Kater Tiger Plus an, als wollte er sagen: Du magst zwar verletzt sein, aber vor dem Bett hier schlafe ich. Und Plus, der sich sonst mit allen anlegt, trollte sich unter den Tisch“, berichtete die Katzen-Marie gerade.
Der Doktor lachte. „Ich habe nicht gewußt, daß Katzen so besitzergreifend sind. Diese Eigenschaft schreibt man gewöhnlich nur Hunden zu. Unsere Bini, beispielsweise, wird eifersüchtig, sobald ich meine Frau umarme.“
„Tiger ist eine Ausnahme. Er war mein erster Hausgenosse nach dem Tod meines Mannes und lange Zeit mit mir allein“, begründete Frau Arnold das normwidrige Verhalten des Katers.
„Danke, wir machen das schon“, sagte der Psychiater, als Sandra begann, die Kaffeedecke, die sie aus dem Schrank genommen hatte, aufzulegen.
Sandra holte Quark, Marmelade und Brot.
Als sie den Kaffee brachte, saß Dr. Frischmuth am Tisch und langte zu, als ob er hier zu Hause wäre.
Sandra lief zu den Jungen hinaus, um ihnen diese Sensation mitzuteilen.
Nach einer Stunde etwa begleitete Frau Arnold Dr. Frischmuth zur Tür.
Der Arzt hielt einen Tragebeutel in der Hand.
Als die Katzen-Marie ins Haus zurückgegangen war, lief Sandra dem Psychiater auf die Straße nach. „Herr Doktor...!“
Dr. Frischmuth blieb stehen und drehte sich zu ihr um.
„Darf ich Sie etwas fragen? Was wird jetzt mit Frau Arnold? Muß sie in ein Pflegeheim?“
Der Doktor hob die Augenbrauen. „Mit meiner Hilfe nicht. Nur, wenn sie selbst es wünscht. Aber wenn Frau Arnold weiterhin
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