Sands, Lynsay - HG 128 - Doppelspiel aus Liebe
wieder richtig sehen konnte, merkte sie, dass es hier gar nicht viel zu sehen gab: zerschrammte Tische auf einem Holzfußboden, welcher mit allem möglichen Unrat bedeckt war, braune Wände, die vielleicht einmal cremefarben oder weiß, jetzt jedoch von dem Rauch befleckt waren. Ungepflegte Menschen in schmutziger, schäbiger Bekleidung saßen in allen Ecken herum, obgleich es noch nicht einmal Mittag war.
Charlie nahm Bessie am Arm und führte sie rasch durch die geräuschvolle Menge zur Bar. Der Gastwirt bemerkte sie sofort. Er bleckte die Zähne, die ebenso fleckig waren wie die braunen Wände, und nickte ihnen zum Gruß zu, während er weiter einen Krug mit einem schmutzigen Lappen auswischte.
„Was darf’s denn sein?“
„Ein Zimmer bitte. Für Lord und Lady – äh – Pigeon.“
Der Mann verlangsamte sein Wischen, blickte sie merkwürdig an und nickte bedächtig. „Es dauert nur eine Minute. Eines der Mädchen wird das Zimmer richten. Setzen Sie sich doch bitte dort drüben an den Ecktisch, und trinken Sie inzwischen ein Bier.“
Charlie folgte dem Blick des Wirts zu dem bezeichneten Tisch und sah, dass dort ein einzelner Mann saß. Er war klein und stämmig, und sein Kopf hing tief über der Brust, während er gelangweilt in seinen Bierkrug sah. Dies musste derjenige sein, den sie hier treffen sollten. Charlie nickte und wollte sich abwenden, doch der Wirt fasste sie am Arm.
„Für das Zimmer und das Bier zahlen Sie im Voraus, ja?“
Da es keine Frage war, griff Charlie in ihre Tasche und holte ein paar Münzen heraus. Die warf sie dem Wirt etwas ungehalten auf den Tresen und schob dann Bessie zu dem angewiesenen Tisch, um die Sache so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
Als die beiden an den Tisch traten, hob der Fremde den Kopf, betrachtete sie kurz und sah, dass sie gleich groß und schlank waren.
„Sie kommen zu spät.“
Über den vorwurfsvollen Ton ärgerte sich Charlie. Sie ließ den Blick über das Gesicht mit der Knollennase, den dicken Lippen und den Pockennarben gleiten. Dieser Mann war kein Typ, den man so bald wieder vergaß. Charlie war sich ganz sicher, ihm noch niemals zuvor begegnet zu sein. Und das bedeutete, dass er nicht der eigentliche Erpresser sein konnte, sondern höchstens dessen Beauftragter war. Sie hatte gehofft, mit dem Erpresser selbst reden zu können, um dabei herauszufinden, ob er später möglicherweise versuchen würde, noch mehr Geld von ihnen zu fordern.
Offenbar bekam sie diese Gelegenheit jedoch nicht, was wiederum bedeutete, dass ihre Schwester und sie sich noch eine Weile länger Sorgen machen müssten.
„Noch zwei Minuten später, und ich wäre gegangen“, fügte der Mann hinzu, weil ihm anscheinend ihr Schweigen nicht gefiel. Charlie zuckte die Schultern und zog den Beutel aus ihrer Tasche, welcher die geforderte Summe enthielt.
„Stecken Sie den wieder ein!“ fuhr der Mann sie an. „Oder wollen Sie, dass wir ermordet werden?“
Unvermittelt stand er auf und bedeutete ihnen, ihm zum hinteren Teil des Etablissements zu folgen. Er führte sie zu einer Tür, durch welche sie in eine kleine, schmuddelige Küche gelangten. Von dort kamen sie durch eine weitere Tür in eine hinter dem Gasthaus befindliche Gasse, in der es ganz unverkennbar nach verdorbenem Fleisch und menschlichen Exkrementen stank.
Angeekelt hielten sich Charlie und Bessie die Nase zu und folgten dem Mann ein paar Schritte vor die Tür, wo er sich zu ihnen umdrehte. Ihr offensichtliches Unbehagen bereitete ihm anscheinend Vergnügen. Ihn selbst schienen diese scheußlichen Gerüche nicht zu stören.
Charlie griff erneut nach ihrem Geldbeutel, und diesmal hielt der Mann sie nicht davon ab. Sie ließ den Beutel in seine ausgestreckte Hand fallen und wartete ab, bis der Knollennasige hineingeschaut und das Geld darin gesehen hatte. Nachdem er zufrieden nickte, lenkte sie seine Aufmerksamkeit wieder auf sich.
„Wenn die Angelegenheit damit also erledigt ist …“
„Noch nicht ganz.“ Er machte eine Handbewegung, als deutete er auf jemanden, der hinter ihnen stand.
Charlie warf einen Blick zurück und sah zu ihrer Bestürzung zwei Männer aus der Hintertür des Gasthauses auf sie zukommen. „Was soll das?“ fuhr sie den Fremden an, dem sie eben das Münzsäckchen übergeben hatte.
„Ja, nun … sieht ganz so aus, als dächte mein Auftraggeber, wenn Sie schon so viel zahlen, um Ihren Aufenthaltsort geheim zu halten, dann zahlt Ihr Onkel vielleicht noch mehr, um Sie
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