Sanft wie der Abendwind
besser wäre, nicht zwischen zwei Eltern hin und her gerissen zu werden.“
„Er hätte nicht zustimmen müssen“, rief Lily. „Er hätte auf seinem Recht bestehen können.“
„Ja, und er hätte Neil Talbot ruinieren können, Lily. Du weißt doch, was mit Ärzten geschieht, die ihre Vertrauensstellung missbrauchen? Sie verlieren das Recht zu praktizieren. Sie stehen dann ohne Mittel zum Lebensunterhalt da und sind in den Augen der Gesellschaft entehrt. Wenn ich mich als Jurist so verhalten würde, wie dein Adoptivvater es getan hat, würde ich aus der Anwaltskammer ausgeschlossen. Und ich versichere dir, wenn man mich behandeln würde, wie Hugo behandelt worden ist, dann würde ich den Mann zu vernichten versuchen, der mir Frau und Kind weggenommen hat. Ich würde mich nicht von ihm zum Gespött der ganzen Gegend machen lassen. Er würde es sein Leben lang bedauern, sich an meinem Eigentum vergriffen zu haben.“
„Ja, weil du arrogant und rachsüchtig bist!“ Lily fühlte sich ganz elend. „Wenn Hugo tatsächlich klein beigegeben hat, statt um mich zu kämpfen, dann ist er ein schwacher Mensch und verdient, was er bekommen hat.“
Rasch kam Sebastian zu ihr und umfasste ihre Arme. Seine blauen Augen blickten eiskalt. „Einen besseren Mann als ihn hätte Genevieve niemals finden können. Bevor er sie heiratete, war sie ein Nichts. Sie war Abschaum, hörst du? Eine Schlampe aus einem Wohnwagen, die tagsüber Hamburger in einer Fernfahrerkneipe servierte und abends im Tausch für einen Drink wer weiß was geboten hat.“
Lily versuchte zu lachen, aber es klang eher wie der Todesschrei eines verwundeten Vogels. „Jetzt ist mir klar, dass du lügst! Wenn sie tatsächlich Abschaum war, wie konnte sie dann jemand wie Hugo Preston kennenlernen, diesen Pfeiler der feinen Gesellschaft?“
„Er hat sie, auf Bitten eines Freundes bei der Polizei, als Anwalt vor Gericht vertreten, nachdem sie gegen einen ihrer Saufkumpane Anzeige wegen schwerer Körperverletzung erstattet hatte. Anscheinend wirkte sie, obwohl grün und blau geschlagen, in der Rolle des Opfers bezaubernd. Hugo, der doppelt so alt war wie Genevieve, verliebte sich Hals über Kopf und heiratete sie.“ Sebastian leerte sein Glas in einem Zug und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. „Es war die alte Geschichte: reicher, kultivierter Mann rettet hilflose junge Frau aus schlechten Verhältnissen und ermöglicht ihr ein schönes Leben. Statt es ihm mit Treue zu vergelten, hat sie ihn zwei Jahre später fallen lassen wegen ihres jungen, potenten Doktors. Einmal eine Schlampe, immer eine Schlampe.“
Ohne nachzudenken, schlug Lily ihm so heftig auf die Wange, dass es wie ein Schuss klang.
Sebastian zuckte nicht einmal zurück, sondern sagte völlig ungerührt: „Mich zu schlagen ändert nichts an den Tatsachen.“
„Du irrst dich“, rief sie verzweifelt. „So war sie nicht. Niemals.“
„Doch. Es gibt genügend Beweismaterial: den Brief, den sie geschrieben hat, nachdem sie Hugo verlassen hatte, und die anderen, in denen sie ihn um die Scheidung bat und darum, dass er deiner Adoption durch Neil Talbot zustimmen würde. Da steht alles schwarz auf weiß, von Genevieve eigenhändig unterschrieben.“
„Nein! Du willst nur Hugo in Schutz nehmen. Bestimmt wollte er sich in seinem Alter nicht mit einem Kleinkind belasten, und deshalb hat meine Mutter ihn verlassen.“ Ihr war klar, dass sie sich nur noch an Strohhalme klammerte.
Sebastians Worte bestätigten es ihr. „Warum hat er dann ganze vier Jahre später keine Vorkehrungen getroffen, damit meine Mutter kein Kind von ihm bekam? Warum hat er einen Stiefsohn bei sich aufgenommen, der mit zwölf Jahren schon alle Anzeichen einer wahren Landplage aufwies?“
Lily ließ den Kopf hängen. Plötzlich fielen ihr Eigenheiten ihrer Mutter ein, die in diesem Licht gesehen eine neue Bedeutung bekamen: Genevieve Talbot hatte nie einen Tropfen Alkohol angerührt und Unmäßigkeit bei anderen verabscheut. Sie hatte ehrenamtlich in einem Frauenhaus gearbeitet. Weil sie nicht einmal die höhere Schule abgeschlossen hatte, hatte sie auf Lilys Ausbildung am College bestanden, damit ihre Tochter nicht ebenso wie sie durch den Mangel an Bildung im Leben benachteiligt sei. Diesen hatte sie, beinah zwanghaft, durch Kurse an einer Abendschule wettzumachen versucht und sich schließlich ein Diplom in Kunstgeschichte erarbeitet.
„Und?“, hakte Sebastian nach. Er klang erstaunlich geduldig. „Was
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