Sanft wie der Abendwind
Musik abgestellt hatte, nahm er eine Flasche Kognak vom Regal und schenkte sich ein Glas ein.
„Warum hast du gedacht, ich würde dir ausgerechnet heute etwas über deine Mutter erzählen?“, erkundigte Sebastian sich.
„Natalie hatte mir angeboten, sich für mich einzusetzen. Sie wollte nachmittags mit dir sprechen und dich dazu überreden, mir die Informationen nicht länger vorzuenthalten. Als du mich vorhin in deine Wohnung eingeladen hast, dachte ich natürlich, Natalie hätte mit ihrer Mission Erfolg gehabt. Es ist doch klar, dass du nur unter vier Augen mit mir über meine Mutter sprechen würdest.“
Schweigend betrachtete er sie über den Rand des Glases hinweg und trank dann einen Schluck.
Nervös zog Lily den Träger des Kleides zurecht. „Natalie hat gar nicht mit dir gesprochen, stimmt’s?“
„Richtig. Sie hat zwar mehrmals hier angerufen, aber ich hatte einfach keine Zeit, sie zurückzurufen. Es hätte ohnehin nichts geändert“, fügte er gereizt hinzu. „Ich bin nicht bereit, dir zu erzählen, was du wissen möchtest. Du hattest nicht das Recht, meine Schwester als Mittlerin einzuspannen.“
„Es wird höchste Zeit, dass ich dir mal etwas klarmache“, erwiderte Lily erbost. „Ich lasse mir von dir nicht vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe. Ständig heißt es, ich solle mich nicht in Dinge einmischen, die mich nichts angehen, aber jeder normale Mensch würde mir bestätigen, dass meine Mutter mich durchaus etwas angeht. Ich bin es leid, von dir als Übeltäterin angesehen zu werden.“
„Hugo ist jedenfalls nicht der Bösewicht in diesem Familiendrama!“
„Vielleicht nicht. Wenn du dich aber weiterhin an dein Schweigegelübde hältst, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich nochmals an ihn zu wenden. Dann werde ich darauf bestehen, Antworten auf alle meine Fragen zu bekommen – egal, wie schmerzlich es für ihn ist, daran erinnert zu werden, dass er mich im Stich gelassen hat.“
„Und wenn Hugo sich weigert?“
„In dem Fall verlasse ich innerhalb einer Stunde das Haus, und keiner von euch wird mich jemals wiedersehen oder von mir hören“, drohte Lily, obwohl sie nicht die Absicht hatte, es tatsächlich zu tun.
Überraschenderweise schien Sebastian sie jedoch beim Wort zu nehmen. „Es würde Hugo umbringen.“
„Das Risiko nehme ich auf mich.“
Nachdenklich schwenkte er den Kognak im Glas. „Okay, ich schlage dir einen Handel vor: Ich sage dir, was du wissen möchtest, wenn du mir vorher eine Frage beantwortest.“
„Frag nur.“ Ihr wurde unbehaglich zumute. „Ich habe nichts zu verlieren und alles zu gewinnen.“
„Wenn du das glaubst, steht dir eine unangenehme Überraschung bevor.“ Sebastian klang beinah mitleidig. „Hast du dich nie gefragt, warum deine Mutter dich über gewisse Umstände im Dunkeln gelassen hat? Ist dir nie in den Sinn gekommen, dass sie es dich einfach nicht wissen lassen wollte?“
„Das sind zwei Fragen, aber ich will jetzt nicht kleinlich sein, da die Antwort in beiden Fällen Nein lautet. Mom und ich standen uns sehr nahe und konnten einander immer alles anvertrauen. Ich vermute, sie wartete einfach auf den richtigen Zeitpunkt, um es mir zu sagen.“
„Du bist sechsundzwanzig, Lily. Ich bezweifle, dass der richtige Zeitpunkt jemals gekommen wäre.“
„Du hast meine Mutter nicht gekannt.“
„Und du bist dir sicher, dass du sie genau gekannt hast?“, hakte Sebastian nach.
„Hundertprozentig sicher.“
Er ging ans Fenster und schaute hinaus. „Was würdest du sagen, wenn ich dir erzählte, dass sie eine Affäre mit ihrem Gynäkologen hatte und deinen Vater noch vor deiner Geburt verließ, um mit ihrem Liebhaber zu leben?“
Lily schauderte, ließ sich aber nicht mürbe machen. „Ich würde sagen, du lügst. Meine Mutter hätte so etwas niemals getan.“
Er wandte ihr weiterhin den Rücken zu. „Ich sage die Wahrheit. Genevieve Preston brannte mit ihrem Arzt durch – mit Neil Talbot, den du lang für deinen Vater gehalten hast – und ließ Hugo sitzen, der sie förmlich anbetete. Sie nahm ihm sein Kind, sie demütigte ihn vor der gesamten Stadt, und sie brach ihm das Herz. Und als wäre das noch nicht genug gewesen, bat sie ihn, auf seine Rechte als Vater zu verzichten.“
„Das glaube ich dir nicht, Sebastian. Kein Mann, der etwas wert ist, würde einer solchen Bitte nachkommen.“
„Hugo hat es getan, weil er zu stolz war, zu betteln. Er war außerdem aufrichtig überzeugt, dass es für dich
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