Sanft wie der Abendwind
keine Bewunderung dafür aufbringen, wie gelassen er ihre gemeinsame Abwesenheit erklärte, wie logisch und überzeugend er die vermeintlichen Fakten darlegte, ganz so, als würde er den Fall vor Gericht präsentieren. Nein, ich hasse ihn, weil er so tut, als wäre nichts gewesen, dachte sie erbittert.
Nach dieser Nacht sah Sebastian Lily fast zwei Wochen lang nicht, konnte sie aber nicht aus seinen Gedanken verbannen. Sein Gewissen ließ ihm keine Ruhe, zum einen, weil er weitergegeben hatte, was Hugo ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hatte, und zum anderen, weil er mit Lily geschlafen hatte, als sie vor Kummer nicht klar zu denken imstande gewesen war. Er hatte ihre Verletzlichkeit, ihr Bedürfnis nach Trost ausgenutzt, und das konnte er sich nicht verzeihen.
Es nutzte nichts, dass er das Geschehen als „Sex pur“, abzuwerten versuchte, denn es war mehr gewesen, viel mehr. Seither hatte er das Interesse an Penny Stanford sozusagen über Nacht völlig verloren und dachte stattdessen ständig an Lily.
Vielleicht weil sie so zart und verletzlich wirkte? Sie war wie vernichtet gewesen, als sie die Wahrheit über ihre Mutter erfahren hatte, und deshalb tat sie ihm leid.
Nein, es war keineswegs Mitleid, was sich regte, wenn er an sie dachte, und auch nicht Nächstenliebe!
Es half ihm kein bisschen, das innere Gleichgewicht wiederzuerlangen, als zu allem Übel ein weiterer Bericht des Detektivs eintraf. Die darin enthaltenen Informationen rechtfertigten sein, Sebastians, ursprüngliches Misstrauen völlig, aber statt deswegen zu triumphieren, wünschte er, er hätte die Untersuchung nicht in die Wege geleitet.
„Verdacht auf Betrug und Verabredung zu kriminellen Taten“, waren hässliche Worte, und er wollte einfach nicht glauben, dass sie sich auf Lily bezogen. Das bewies, in welch schlechter Verfassung er war. Vielleicht sollte er besser den Beruf als Anwalt aufgeben und auf Müllmann umsatteln!
Am Donnerstag nach der Party rief seine Mutter ihn im Büro an. „Ich wollte dich daran erinnern, dass wir morgen ins Ferienhaus am See fahren und das Wochenende dort verbringen, Sebastian. Du kommst doch mit, oder?“
Und was soll ich dort, fragte Sebastian sich. Konnte er Lily in die Augen sehen und so tun, als hätten sie sich bisher immer nur kühl die Hand geschüttelt? Und das, obwohl er sich so lebhaft und in allen Einzelheiten daran erinnerte, wie leidenschaftlich sie gewesen war, als er sie in den Armen gehalten hatte? Würde er es schaffen, sie mit nichts als einem knappen Bikini am Körper zu sehen und trotzdem den übermächtigen Drang zu beherrschen, sie zu berühren? Und noch wichtiger: Konnte er sich so unbefangen verhalten, als wüsste er nicht, dass die Polizei in Vancouver sie krimineller Machenschaften verdächtigte?
„Nein, das geht vermutlich nicht“, antwortete Sebastian seiner Mutter. „Ich stecke bis über die Ohren in Arbeit.“
„Die Abdeckung um den Schornstein muss aber endlich repariert werden, bevor die Schlafzimmerdecke völlig ruiniert ist, und ich kann doch Hugo nicht in seinem Alter aufs Dach klettern lassen! Außerdem haben wir so viel gesellschaftliche Verpflichtungen wahrgenommen, seit Lily hier ist, dass ein ruhiges Wochenende im Kreis der Familie eine nette Abwechslung wäre.“
Plötzlich klang seine Mutter sehr enttäuscht. „Ehrlich, Sebastian, du hattest doch versprochen mitzukommen! Hast du das denn vergessen? Na gut, es würde mich nicht überraschen, weil du dich hier ja seit Tagen auch nicht mehr blicken lässt.“
„Wenn du es genau wissen willst, Mom: Ich dachte, ihr hättet es euch mit dem Wochenende am See anders überlegt. Fährt Lily nicht demnächst nach Vancouver zurück? Ursprünglich hieß es doch, sie würde etwa drei Wochen bei euch sein, oder?“
„Richtig. Ihr Vater hat sie aber überredet, bis Anfang September zu bleiben. Es gibt ja nichts, was sie nach Vancouver zurückzieht.“
Dass Lily so lange bleibt, hat mir gerade noch gefehlt, dachte Sebastian.
„Also, Sebastian, kommst du mit? Du kannst dir ja etwas zu Arbeiten mitnehmen, wenn du möchtest. Natalie muss für ihre Prüfungen lernen, also wärst du nicht der Einzige, der zu tun hat. Hugo würde sich so freuen, dich zu sehen! Er ist immer gern mit dir zusammen, und ihm ist aufgefallen, dass du in letzter Zeit einen großen Bogen um uns zu machen scheinst.“
Ja, weil ich mich wegen meines Vertrauensbruchs so sehr schäme, dass ich Hugo nicht in die Augen sehen kann
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