Sanft will ich dich töten: Thriller (German Edition)
beschäftigt war. Unwillkürlich überlief sie eine Gänsehaut, was albern war, doch sie konnte nicht anders – sie musste hinaufblicken zu der hohen Decke mit den dunklen Balken und verborgenen Nischen. Früher einmal hatte der inzwischen umgebaute Dachboden eine Empore für den Chor, einen Rückzugsraum für junge Mütter mit Säuglingen und diverse kleine Abstellkammern beherbergt. Oberhalb der Empore erhob sich, über eine Treppe zu erreichen, der Glockenturm, ein hoher Spitzturm, der nach Jennas Meinung schon vor zwanzig Jahren hätte abgerissen werden müssen.
Blanche stieß verächtlich den Atem aus. »Ich möchte doch meinen, ihr alle wisst, dass eine solche Aufführung Zeit braucht und Proben, Proben und nochmals Proben.« Sie zog ihre Baskenmütze und ein Paar Lederhandschuhe aus der Tasche.
»Du hast ja Recht«, pflichtete Jenna ihr bei. »Durch Proben wird es besser.« Im Stillen sagte sie sich, dass darüber hinaus allerdings auch noch ein bisschen Talent vonnöten wäre und bedeutend mehr Arbeitseifer. Doch schließlich handelte es sich hier um ein privat finanziertes Kleinstadttheater mit unbezahlten Laiendarstellern, und die Erlöse aus den Kartenverkäufen flossen in den Theaterfonds, wurden für Reparaturen und für die Bezahlung der Belegschaft verwendet, also durfte sich eigentlich niemand beklagen.
Yolanda sagte: »Ich gehe jetzt. Bis später«, und verschwand durch eine Seitentür zum Parkplatz.
Lynnetta stieß ihre Nadel in ein Nadelkissen und legte sich das Kleid über den Arm. »Ich finde, wir sollten uns nicht aufregen und aufhören, die Schauspieler schlecht zu machen. Blanche hat Recht: Wenn die Arbeit so weit wie jetzt gediehen ist, werden wir alle immer etwas nervös.«
»Nur zu wahr«, gab Rinda zu. Die Heizung arbeitete plötzlich auf Hochtouren und rumpelte laut, als heiße Luft durch die uralten Röhren schoss. »Okay, lassen wir das. Ein Schritt nach dem anderen. In zwei Tagen findet die nächste Probe statt. Wollen wir hoffen, dass dann alle Schauspieler teilnehmen.«
»Oh, das werden sie sicher.« Blanche schlüpfte aus ihren pinkfarbenen Ballerinas und zog pelzgefütterte Wildlederstiefel an, die bis knapp über ihre Knöchel reichten. »Seid guten Mutes!« Sie lachte über ihren eigenen kleinen Scherz, doch es wirkte nicht heiter, sondern eher wie ein Zähneblecken. »Oh, der Spruch ist unter diesem Dach wohl schon etwas öfter gehört worden.« Sie nahm ihre Mappe vom Klavierschemel. »Wir sehen uns dann in ein paar Tagen wieder. Um sieben Uhr, ja?«
Rinda nickte. »Sofern das Wetter es zulässt.«
»Ach, Schätzchen, ich glaube, in diesem Winter lässt das Wetter überhaupt nichts zu.« Blanche verzog die Lippen noch einmal zu ihrem ausdruckslosen Lächeln und verließ mit klappernden Absätzen das Theater.
»Was ist denn sie gefahren?«, rief Wes von oben, bevor er mit schweren Schritten die Treppe am Fuß des Glockenturms herunterkam und am hinteren Bühnenausgang erschien.
»Sie versucht eben mit aller Macht, optimistisch zu sein«, antwortete Rinda.
Jenna war sich dessen nicht so sicher. Hinter dieser Klavierlehrerin steckte mehr, als man auf den ersten Blick annahm. Blanche lebte allein mit fünf Katzen, drei Klavieren, einem ganzen Haus voller Glaskunst und Stapeln von Taschenbüchern. Sie war einmal verheiratet gewesen, doch niemand wusste, ob sie geschieden oder verwitwet war oder einfach nur von ihrem Mann getrennt lebte. Oder ob es diesen Mann überhaupt gab und den Sohn, den sie gelegentlich erwähnte. Sie war eine talentierte Musikerin und ein wenig exzentrisch. Und nach Jennas Meinung nicht unbedingt optimistisch.
»Ich finde, wir sollten alle etwas positiver denken.« Lynnetta strich das Kleid glatt, das sie zusammengelegt hatte, und verstaute es in einer kleinen Sporttasche.
»Schon gut, schon gut.« Rinda nickte und strich sich das Haar aus den Augen. »Du hast ja Recht. Das war die erste Probe – alle Beteiligten werden sich bestimmt noch steigern.« Sie sah auf ihre Uhr und riss die Augen auf. »Verdammt. So spät schon. Der Hund ist schon den ganzen Tag allein zu Hause. Ich muss los.« Ihr Blick schweifte durch das Theater. »Scott!«, rief sie zu den Dachbalken hinauf. »Los, komm.« Als sie nicht gleich eine Antwort erhielt, wandte sie sich ihrem Bruder zu. »War er nicht bei dir?«
Wes nickte. »Anfangs schon. Aber seit dem zweiten Akt habe ich ihn nicht mehr gesehen.«
»Scott!«, schrie Rinda.
Jenna blickte hinauf zu all den dunklen
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