Sanfte Eroberung
behaupten konnten. Und Lily begriff, dass die meisten von ihnen sich dieses Leben ausgesucht hatten, genau wie Fanny, Fleur und Chantel. Einige jedoch waren gegen ihren Willen gezwungen worden, sich zu verkaufen.
Und Letztere waren es, denen Lily ganz besonders helfen wollte: die unglücklichen Namenlosen, die in einem Gewerbe gefangen waren, das sie verabscheuten. Lily war es bereits gelungen, zweien von ihnen zu helfen, indem sie sie nach Danvers Hall zu Roslyn geschickt hatte, wo sie fortan als Kammerzofen arbeiteten. Zweifellos war es eine anstrengende Arbeit und weniger gut bezahlt als die des Freudenmädchens, doch beide Mädchen betrachteten sie als deutlich verdienstvoller, denn ihren Lebensunterhalt in einem Bordell zu bestreiten.
Lily war ausgesprochen froh, den beiden Mädchen ein neues Leben bieten zu können. Und sie verstand nun, warum Tess sich mit solchem Elan wohltätig engagierte.
Tess kam zweimal wöchentlich nach London, um zu unterrichten, und Basil Eddowes gab frühmorgens Sprachunterricht, bevor er in die Kanzlei ging. Fleur und Chantel waren mit Leib und Seele dabei, die Mädchen zu fördern, und Fanny wurde von ihnen angebetet, seit sie alle in die Geheimnisse einweihte, wie eine Dame sich begehrenswert machte.
Die jungen Damen schienen überaus dankbar für Lilys Mühen, was sie als große Befriedigung empfand. Vom ersten Moment an hatte sie begriffen, dass diese jungen Frauen sie weit dringender brauchten als die reichen Kaufmannstöchter, die sie an der Freemantle-Akademie unterrichtete.
Hinzu kam, dass Lily ihre eigene Situation vollkommen neu wahrnahm und erkannte, welches Glück sie im Vergleich zu diesen Frauen hatte. Ihre Schwestern und sie wussten, was es bedeutete, dem Schicksal ausgeliefert zu sein. Und Lily erschauderte bei dem Gedanken, dass sie selbst zur Prostitution hätten gezwungen sein können, wäre ihr Stiefonkel nicht gewesen, so ungern er sie auch aufgenommen hatte.
Was Mick O'Rourke betraf, schien er abzuwarten, bis die vereinbarte Gnadenfrist vorüber war.
Unterdessen war Fanny mit einem anderweitigen Versuch beschäftigt, Geld aufzutreiben. Statt ihre Memoiren zu schreiben, verfasste sie ein Manuskript basierend auf ihren jüngsten Briefen an Roslyn. Es trug den Titel »Ratgeber für heiratswillige junge Damen«. Der Verleger rechnete mit zahlreichen Verkäufen, dürfte das Thema doch alle Debütantinnen interessieren.'
Einzig der Umstand, dass Roslyn sich im vergangenen Monat hoffnungslos in den Duke of Arden verliebt und sich mit ihm verlobt hatte, bekümmerte Lily. Wäre sie zu Hause geblieben, hätte sie ihre Schwester vielleicht vor diesem eklatanten Fehler bewahren können.
Wenigstens schienen Arabella und Marcus nach wie vor glücklich. Nach ihrer einmonatigen Hochzeitsreise waren sie unlängst nach Danvers Hall zurückgekehrt, wie Roslyn berichtete.
Lily sehnte sich danach, ihre Schwestern wiederzusehen, wenn auch nicht genug, um das Risiko einzugehen, dem Marquess of Claybourne zu begegnen.
Als sie den Brief las, den Roslyn ihr gestern schickte und in dem ihre Schwester sie warnte, dass der Marquess das Interesse an ihr anscheinend nicht verloren hatte, verfinsterte ihre Miene sich. Angeblich war Claybourne gänzlich unerwartet nach Hampshire gereist, um nach ihr zu suchen.
Dort hatte Winifred ihn hingeschickt, die recht e m pört auf die Nachricht reagierte, dass Lily keineswegs alte Nachbarn besuchte, wie sie jedermann glauben lassen wollte.
Lily fand die Hartnäckigkeit seiner Lordschaft besorgniserregend. Schließlich hatte sie darauf vertraut, ihm endgültig entkommen zu sein.
Mit etwas Glück würde er sie zumindest nicht hier entdecken, dachte sie, während sie von einem elegant gedeckten Tisch zum nächsten schritt.
Die Damen erschienen nicht minder elegant. Sie waren ausnahmslos in Abendroben gekleidet, obwohl es erst zwei Uhr nachmittags war, und übten, Suppe zu essen, ohne zu schlürfen. Lily brauchte kaum zu korrigieren, so gut beherrschten sie alle es inzwischen.
Als sie gerade den beiden Dienern bedeutet hatte, die Suppenteller abzuräumen und den nächsten Gang zu servieren, kam eine Kammerzofe, die ihr etwas zuflüsterte.
»Verzeihen Sie die Störung, Miss Loring, aber ein Gentleman ist hier, der mit Ihnen sprechen möchte. «
Lilys Herz setzte für einen Schlag aus. Kein Gentleman ihrer Bekanntschaft wusste, dass sie hier war ... es sei denn ... Nein, Lord Claybourne konnte sie unmöglich gefunden haben. »Hat er seinen
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