Sanfter Mond - Hawthorne, R: Sanfter Mond - Dark Guardian - 02 Full Moon
sie mir zu. Ich mochte sie nicht sonderlich gern, aber ich war zu hungrig, um mich zu beklagen.
»Woher wollen wir wissen, dass wir in die richtige Richtung gehen?«, fragte ich.
Rafe hatte sich auf einer Kiste niedergelassen und stärkte sich ebenfalls mit einer Dose Würstchen. »Dallas hat gesagt, dass sich das Labor in der nordöstlichen Ecke des Parks befindet. Die Richtung müsste also stimmen. Wenn wir uns dem Gelände nähern, kann ich hoffentlich den Geruch der Bio-Chrome-Leute aufnehmen.«
»Das wäre einfacher, wenn du als Wolf unterwegs wärst.«
Grinsend zuckte er die Achseln. »Einfacher schon, aber es würde nicht so viel Spaß machen.«
»Oh, ja. Ich bin die reinste Stimmungskanone.«
»Mit dir fühle ich mich nicht einsam.«
Ich warf ihm einen prüfenden Blick zu und dachte an unsere gemeinsame Schulzeit zurück. »Ich habe dich immer für einen Einzelgänger gehalten.«
»So war es einfacher für mich.«
»Wie meinst du das?«, fragte ich.
Er zog ein weiteres Würstchen aus der Dose und nahm einen Bissen. »Du hast mich am Abend der Sonnwendfeier gefragt, ob ich mir Dinge gewünscht hätte, die ich nicht haben konnte.«
»Ich wollte nur … ich weiß auch nicht. Ich hätte das nicht sagen sollen.«
»Nein, du hattest Recht. Als Kind wollte ich Eltern, die zu Schulfesten kamen und sich für meine Schulprojekte interessierten. Ich wollte einen Vater, der mit mir Fußball spielt, statt mich grün und blau zu prügeln. Wenn ich mich mit jemandem anfreundete, sah ich eine Menge Dinge, die ich mir wünschte und von denen ich wusste, dass ich sie niemals bekommen würde. Keine materiellen Sachen, wie Computer oder Stereoanlagen, sondern zum Beispiel ein Abendessen mit der ganzen Familie.«
Ich bekam einen Kloß im Hals. Ich hatte gewusst, dass er in einer anderen Welt als meiner aufgewachsen war, aber ich hatte nicht geahnt, wie groß die Unterschiede waren.
»Du warst die Einzige, die mich nicht angestarrt hat, wenn ich mit einem blauen Auge und Blutergüssen zur Schule kam«, sagte er.
»Meine Eltern haben mir immer eingeschärft, niemanden anzustarren.« In letzter Zeit schien ich meine Manieren jedoch vergessen zu haben, denn ich starrte Rafe ständig an. Während er von seiner Vergangenheit redete, wollte ich mehr als ihn ansehen. Ich wollte ihn im Arm halten und trösten. »Dein Vater hat dir das angetan, stimmt’s? Er hat dich geschlagen.«
»Ja. Er war meist betrunken. In dem Zustand konnte ich
ihm nichts recht machen. Er drosch mit Fäusten auf mich ein. Manchmal habe ich erzählt, dass ich eine Schlägerei hatte. Es war einfacher, den Raufbold zu spielen als Leuten die Wahrheit zu sagen: Mein Dad hat mich gehasst wie die Pest.«
»Nein!«, protestierte ich heftig. »Er war krank. Niemand könnte dich hassen, Rafe.«
Er lächelte schief und schüttelte den Kopf. »Als Junge konnte ich es kaum abwarten bis zur ersten Transformation, weil ich dadurch die Fähigkeit bekam, schneller zu heilen. Die Leute würden nicht mehr mitbekommen, wie oft er mich schlug. Dann ist er bei dem Autounfall ums Leben gekommen, und ich hatte nichts mehr zu befürchten. Ich war froh, dass er tot war.« Er hielt kurz inne. »Macht dir dieser Teil von mir Angst?«
Ich hielt seinem Blick stand. »Nein, ich habe ihn auch nicht gemocht. Ich hatte Angst vor ihm.«
Rafe wirkte alarmiert. »Hat er irgendwas getan, das dir Angst gemacht hat? Hat er dir wehgetan?«
»Nein, nein. Mein Dad hätte ihn umgebracht, wenn er das getan hätte. Er sah nur so böse aus. Machte immer ein grimmiges Gesicht, als hätte er einen Hass auf die ganze Welt.«
»Ich würde dir niemals wehtun, Lindsey. Ich bin nicht wie mein Dad.«
»Ich weiß.« Und das stimmte. Rafe machte mir zwar Angst, aber das lag an meinen Gefühlen für ihn - Gefühle, die ich noch nie zuvor für jemanden empfunden hatte. Und heute Nacht würden wir eng aneinandergeschmiegt in dieser kleinen Höhle liegen.Vielleicht würden wir uns wieder
küssen. Ich hatte mich den ganzen Tag gefragt, was in dieser Nacht wohl geschehen mochte.
Ich stand auf und steckte die leere Dose in eine Plastiktüte, die wir mitnehmen würden. Wir waren immer sorgsam darauf bedacht, die Umwelt sauber zu halten. »Ich gehe zum Teich.«
Rafe musterte mich intensiv, als würde er sich fragen, ob ich ihn zum Mitkommen aufforderte. Das war nicht der Fall. Ich brauchte ein bisschen Zeit für mich, damit sich meine Nerven beruhigen konnten. Ich wusste, dass hier nichts geschehen
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