Sanfter Mond über Usambara
zu haben. Nicht einmal zu einem Besuch hatte sie sich durchringen können, und nun war es zu spät.
» Gott sei seiner armen Seele gnädig « , meinte Peter Siegel, dem sie das Schreiben hinüberschob. » Er hat sein Leben lang geschachert und gerafft– aber Jesus Christus ist für alle Sünder gestorben, also auch für ihn. «
In diesem Augenblick trat Klara ins Zimmer, gefolgt von Martha Mukea, die den kleinen Samuel auf dem Arm trug. Seine Herzensfreundin Ontulwe musste im Flur warten, bis Sammi sein Frühstück gegessen hatte, dann erst durften die beiden unter Martha Mukeas Aufsicht miteinander spielen. Ob Klara ihrem Sprössling allerdings erlauben würde, einen Matschhügel im Hof zu bauen, war fraglich.
» Ach, Charlotte, es tut mir leid. Wir sind solche Langschläfer. Aber zum Glück ist die Post gekommen, da warst du ja beschäftigt. Martha Mukea, du solltest doch die drei Hemdchen waschen, die ich für Sammi genäht habe. Sitz still, mein Kleiner, du musst jetzt erst deinen Brei essen. Sprich doch bitte das Tischgebet, Peter, damit wir anfangen können, er ist so furchtbar zappelig, es muss an diesen vielen Gewittern liegen, sie ängstigen ihn… «
Charlotte, die bereits gefrühstückt hatte, sprach das Tischgebet trotzdem mit und verschwieg Klara, dass ihr frommer Ehemann bereits eine Tasse Kaffee zu sich genommen hatte, ohne zuvor ein Gebet zu sprechen. Stattdessen erhob sie sich, um ans Fenster zu treten. Vielleicht ließ sich dieser Zeitungsfetzen bei hellerem Licht leichter entziffern.
Tatsächlich. Jetzt sah sie auch, dass jemand mit feinem Bleistift einige Worte an den Rand notiert hatte.
Times of India. November 11th, 1869
Großer Gott. Kein Wunder, dass das Papier schon so brüchig war, diese kleine Notiz war vierzig Jahre alt. Was mochte Kamal Singh wohl bewogen haben, ihr diese merkwürdigen Dinge zukommen zu lassen?
Diebisches Personal
Am vergangenen Wochenende drang ein Dieb in das Landhaus des Bezirksrichters Charles Lindley ein und erbeutete unter anderem einen wertvollen Bilderrahmen aus reinem Sterlingsilber, der auf dem privaten Schreibtisch des Bezirksrichters gestanden hatte. Der Tat dringend verdächtig ist ein ehemaliger Diener indischer Nationalität, welcher von Lin dle y verschiedener Vorkommnisse wegen bestraft und entlassen worden war.
Charles Lindley?
Hinter ihr klapperte Sammi mit dem Löffel auf dem Tellerrand, Klara redete ihrem Sohn zu, doch nur ein klein wenig von dem guten Brei mit Honig zu essen. Peter Siegel mischte sich ein und warf Klara vor, viel zu nachgiebig zu sein, es sei höchste Zeit, dass der Junge lerne, den Eltern zu gehorchen.
Charlotte starrte auf den Papierfetzen in ihrer Hand– hatte sie sich verlesen? Hieß dieser Bezirksrichter tatsächlich Charles Lindley? » Was ist das für ein Zettel, auf den du die ganze Zeit starrst, Lotte? «
» Nur ein Artikel aus einer alten Zeitung, Klara. «
» Ach, und was steht drin? «
Charlotte antwortete nicht. Emily Lindley war der Mädchenname ihrer Mutter gewesen. der Tochter eines britischen Beamten und einer Inderin, doch Charlotte hatte keine Ahnung, wie ihre Großeltern mit Vornamen hießen oder ob ihr Großvater Bezirksrichter gewesen war. Dieses Unwissen hatte sie ihrer Großmutter väterlicherseits, Grete Dirksen aus Leer, zu verdanken. Nach dem Schiffsuntergang, bei dem Charlottes Eltern und ihr kleiner Bruder zu Tode kamen, hatten die indischen Großeltern nach Leer geschrieben und gebeten, die Enkeltochter großziehen zu dürfen. Aber da kannten sie Grete Dirksen schlecht– niemand auf der Welt hätte es fertiggebracht, ihr eines ihrer Kinder oder Enkel zu nehmen. Sie hatte den Brief im Küchenherd verbrannt und die Namen der ungeliebten indischen Sippe damit ein für alle Mal ausgelöscht.
» Und was ist das für eine hübsche Zeichnung? « , ließ Klara nicht locker. » Wen stellt sie dar? «
» Keine Ahnung. Hast du den Brief gelesen? Kamal Singh ist gestorben. «
» O mein Gott! «
Peter Siegel bemerkte, dass der Inder Charlotte ganz offensichtlich etwas vermacht habe, sonst würde man sie nicht zur Testamentseröffnung einladen.
» Vielleicht hat er dir Geld hinterlassen? « , mutmaßte Klara aufgeregt. » Oder eines seiner Häuser. Du liebe Güte– am Ende sogar die wunderschöne Villa in Tanga, von der du erzählt hast. «
» Er hat seinen Reichtum mit Betrügereien erworben, Klara. An Charlottes Stelle würde ich eine solche Erbschaft ausschlagen. «
» Am fünften Mai? Das
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