Sanfter Mond über Usambara
schlief. Es war jedoch auch möglich, dass er noch ein letztes, weit entferntes Dorf aufsuchte, über umgestürzte Urwaldriesen stieg, steile Böschungen hinaufkletterte, durch Sümpfe watete… Irgendwann musste ihnen die Lymphe ja ausgehen, dann war ihre Mission beendet, und sie kehrten nach Daressalam zurück.
Ach, jetzt konnte sie so gut verstehen, wie er an den Abenden allein in seinem Arbeitszimmer gesessen und an sie gedacht hatte. Sie hatte seinen Brief mit zärtlichen Augen gelesen, es war ihr ungemein romantisch erschienen, dass er sie an die längst vergangenen Zeiten erinnerte, in denen sie noch voneinander getrennt gewesen waren. Jetzt aber spürte sie wieder, wie schmerzhaft die Einsamkeit war, wie weh es tat, auf den Geliebten zu warten, täglich, stündlich an ihn zu denken, auf das Ticken der Uhr zu hören und nichts tun zu können, als sich zu gedulden.
Ein Windstoß fegte unter das Vordach, und sie musste rasch zufassen, damit ihre Manuskripte nicht davonflatterten. Im selben Moment sprang Simba auf, lief zum Tor und kläffte zornig. Jemand hatte die Schelle betätigt.
Mimi, das schwarze Hausmädchen, schien bei dem Koch in der Küche zu stecken, und Charlotte war viel zu ungeduldig, um auf sie zu warten. Hastig erhob sie sich, legte einen weiteren Stein auf die Blätter und lief über den Rasen zum Tor hinüber.
» Ruhig, Simba. Geh zurück. Nun mach schon. «
Vor dem Tor wartete ein schwarzer Botenjunge, der wegen des Hundegebells ängstlich einige Meter Abstand hielt. Als er den großen rotbraunen Löwenhund erblickte, sah er seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt und fing heftig an zu zittern. Manche Weiße in der Gegend hielten sich auf Schwarze dressierte Kampfhunde, vielleicht hatte der arme Kerl schon einmal mit solch einem Wächter Bekanntschaft gemacht.
» Steck die Nachricht dort unter den Stein. Hat man dir sonst noch etwas aufgetragen? Nein? Hier, das ist für dich. «
Sie warf ihm eine halbe Rupie zu und sah ihn pfeilschnell mit seinem Lohn davonrennen. Kopfschüttelnd ging sie zu der Stelle hinüber, an der er den Brief deponiert hatte, und stellte fest, dass es sich um einen zusammengefalteten Zettel handelte.
Liebe Frau Johanssen, da ich momentan nicht abkömmlich bin, bitte ich Sie, mich in der Sewa-Hadschi-Klinik aufzusuchen. Wir haben Nachricht von Ihrem Mann.
Dr. Kalil
Der Wind zerrte an dem Zettel und wollte ihn ihr aus den Händen reißen, während sie sich mit dem Rücken Halt suchend gegen die Mauer lehnte und immer wieder diesen einen merkwürdigen Satz las.
Wir haben Nachricht von Ihrem Mann…
Nachricht von George? Aber wieso schickte er der Sewa-Hadschi-Klinik eine Nachricht? Er würde doch in den nächsten Tagen nach Daressalam zurückkommen… Eine unbestimmte Angst flammte in ihr auf, breitete sich in ihrem Körper aus wie ein loderndes Feuer und wollte ihr schier den Atem nehmen.
» Mama? Bist du gesund? Du siehst ganz blass aus… « , ertönte da eine helle Stimme.
Sie zwang sich zu einem Lächeln und steckte den Zettel rasch in ihre Jackentasche. Elisabeth, die mit Jim im Schlepptau auf das Eingangstor zusteuerte, hatte scharfe Augen und ein gutes Gespür für die Stimmungen ihrer Mutter.
» Mir geht’s gut. Wie war es in der Schule? «
» Langweilig! Ist George immer noch nicht gekommen? «
» Nein… «
Elisabeth drückte Charlotte einen Kuss auf die Wange, kraulte Simbas wollige Ohren und lief eilig in den Garten. Sie war inzwischen genau so groß wie ihr afrikanischer Begleiter. Der schwarzhäutige Jim und das blonde weiße Mädchen mit den blauen Augen waren ein seltsam ungleiches Paar. Sie verstanden sich jedoch gut, schwatzten Englisch, Deutsch und Suaheli miteinander, und Jim war stolz darauf, den ledernen Schulranzen seiner jungen Herrin nach Hause tragen zu dürfen. Er selbst hatte niemals eine Schule besucht.
» Wir essen heute ein wenig später, ich habe noch etwas zu erledigen. «
Das gefiel Elisabeth zwar gar nicht, aber der Tonfall ihrer Mutter machte deutlich, dass sie keinen Widerspruch duldete. Charlotte trug die Manuskripte ins Arbeitszimmer, um sie dort auf Georges Schreibtisch zu deponieren, dann zog sie hastig eine Jacke über, band ein Tuch um den Hut, damit er nicht davongeweht wurde, und verließ das Haus, Simba wie immer dicht auf den Fersen.
Es war schon später Nachmittag, als sie das Klinikgebäude erreichte. Aus dem Eingang kam ihr eine Gruppe afrikanischer Frauen entgegen, in bunte Tücher gekleidet und
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