Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sankya

Sankya

Titel: Sankya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zakhar Prilepin
Vom Netzwerk:
Opa voller Interesse an, Wenja dagegen so, als säße vor ihm ein Waldgeist, der in seiner unbekannten Sprache vor sich hin grummelte; Posik schaute zum Fenster hinaus, Oleg trank Tee und kratzte die Marmelade aus.
    Nachdem er das Glas geleert hatte, stand er auf, ging in den Flur hinaus und kam mit einer Tüte voller Lebensmittel zurück – er hatte sie aus dem Auto geholt.
    »Opa, setz dich und trink Tee mit uns«, sagte er freundlich und breitete das Essen auf dem Tisch aus.
    »Ich habe den ganzen Tee schon vor langer Zeit ausgetrunken, mein ganzes Brot gegessen. Jetzt esse ich das von den anderen. Und ich sage euch: Ihr werdet bald alle davonlaufen, wenn ihr versteht, dass man eurer müde ist. Aber ihr werdet nirgendwohin fliehen können: Denn es sind alle gestorben, die euch beherbergen könnten. In euren Herzen sind alle gestorben, und niemand wird Unterkunft finden … Man denkt heute, dass die Rus grenzenlos ist, ewig war und ewig sein wird. Aber wenn man die Rus auf meine Lebenszeit umlegt, ergibt sie insgesamt nur siebzehn solcher Leben. Die ganze Rus besteht aus siebzehn alten Männern. Der erste ist noch unter den Chasaren geboren. Im Sterben riss er dem zweiten, der nach sieben Jahrzehnten geboren wurde, die Nabelschnur ab. Der dritte kann sich an Swjatoslaw erinnern … Der fünfte fiel in die Zeit der Zwietracht , der sechste erlebte den Tataren … Der zwölfte lebte zur Zeit der Wirren , der dreizehnte zu Rasins Zeiten , der vierzehnte zur Zeit von Pugatschow … So schnell ging es bis zu mir: siebzehn alte Männer – nicht sehr viel. Wir finden alle in dieser Hütte Platz – das ist die ganze Geschichte … Wir dachten ja in unserer Jugend, wir werden Kinder haben, die, wie es hieß, unsere Sünden nicht kennen; aber daraus sind Kinder geworden, die weder Himmel noch Erde kennen. Sie haben nur Hunger. Nur ist der Hunger ein ganz schlimmer, er geht vom Kopf aus. Den kann man nicht stillen, denn satt werden nur jene, die nach der Wahrheit hungern … Ihr geht dort alle, heißt es, in die Kirche. Ihr glaubt, dass ihr die Leere in den Herzen verdeckt, wenn ihr ständig zur Kirche schlurft. Die Menschen hoffen, dass sie Gott in ihre Gewalt bekommen, wenn sie ihm Kerzen aufstellen. Sie glauben, sie können ihn übers Ohr hauen. Sie meinen, sie haben ihn sich untertan gemacht, haben ihn gezwungen, ihre Schwächen zu rechtfertigen; ihre Niedertracht und Trägheit, die sie jetzt einmal Barmherzigkeit nennen, ein andermal Güte. Beim geringsten Anlass deuten sie gleich auf Gott: ›Gott hat so entschieden. Gott hat so gesagt. Gott hat das so ausgedacht.‹ Und sogleich raffen sie wieder so viel zusammen, wie ihre Klauen erwischen können. Aber woher wollen sie, diese Dummen, wissen, was Er ausgedacht hat, was nach Seinem Willen geschieht, und was mit Seiner Duldung? … Doch die Trauer rührt nicht daher, dass der Mensch nichtig, sondern dass er in seiner Nichtigkeit böse ist. Je mehr er erkennt, dass andere seine Nichtigkeit sehen, umso böser wird er … Ihr habt keinen Ausweg mehr, so ist das.
    »Opa, hast du wieder deine Philosophie ausgebreitet?«, sagte der eintretende Hausherr lachend. Er trug jetzt wieder ein graues Leibchen und die Trikothose.
    »Ich sage doch, der Traktor steht seit Oktober, rechne mal«, antwortete der Opa lebhaft. »Sie werden nicht wegfahren, sage ich. Und die Männer im Dorf – mit mir sind es vier. Sie müssen warten, bis es taut.«
    »Geh, deine Scherze haben wir jetzt lang genug gehört, geh«, scheuchte der Hausherr den Opa davon; nicht grob, aber sehr bestimmt. Und der Opa ging, blinzelte – jetzt fängt er gleich zu weinen oder zu kichern an.
    Die Hausherrin trat ein, sie lächelte sofort derart freundlich, dass allen, außer Wenja, ein Stein vom Herzen fiel. Sascha etwa war sehr beunruhigt gewesen, wie sie ihre Anwesenheit aufnehmen würde. Nur Wenja hatte darüber offenbar nicht nachgedacht.
    »Hast du den jungen Leuten nicht angeboten, sich abzutrocknen?«, warf sie dem Ehemann vor. »Siehst du nicht, dass sie alle nasse Füße haben?«
    »Wer hindert sie denn daran?«
    Dann brachten sie Werotschka eine Schüssel mit heißem Wasser, das nach irgendetwas Herbem und Süßem roch, um die Füße zu wärmen; sie versuchte nicht einmal abzulehnen, tauchte die Fußsohlen wohlig zitternd in das heiße Wasser.
    Die Jungs gaben bereitwillig die Socken ab – im Gegenzug bekamen sie dafür Wollsocken, die fast alle zerrissen waren, jeweils gleich zwei für einen Fuß,

Weitere Kostenlose Bücher