Sankya
welchem Winkel der Kindheit dieses unsinnige Wort »akkurat« dahergeflogen war. »Und jetzt, auf einmal, reicht es nicht mehr aus.«
»Weil es ihnen reicht, zu gebären« – fuchtelte Ljowa mit den Händen herum. »Wie sehr soll man denn diese unersättliche ›russische‹ Idee mit seinen Kindern noch füttern!«
»Sie denken ja auch nur an die russische Idee, wenn sie nicht gebären wollen.«
»Sascha, werd jetzt nicht bösartig«, grinste Ljowa.
Sascha antwortete nicht. Er war wirklich verärgert. Er wusste selbst nicht, wovon. Davon, dass er sich auf diese Diskussion eingelassen hatte.
An diesem Abend sprachen sie nicht mehr, zumindest nicht über »Ideen«; am nächsten Morgen aber, als sie bei irgendeiner Neuigkeit, die sie im Radioempfänger hörten, hängenblieben, begann das Gespräch von neuem, praktisch von vorne.
Ljowa wurde schärfer.
Er sagte, Russland sei theoretisch ein Pferd – in der Praxis ziehe es aber nichts. Dass dort, wo in Russland das Gewissen beginnt, sofort eine Krankengeschichte einsetzt. Und noch viele Überlegungen dieser Art.
»Nein, sag mal, habt ihr überhaupt eine Ideologie?«, konnte er sich nicht beruhigen. »Oder spielt ihr einfach nur die Dummen und verwendet das armselige Vokabular dieses ganzen rot-braunen Gesindels? « Ljowa schrie, milderte aber die Schärfe seiner Worte durch sein Grinsen.
»Erstens sind sie kein Gesindel, Ljowa«, antwortete Sascha ohne zu lächeln. »Zweitens … und zweitens … es gibt schon lange keine Ideologie mehr … In unserer Zeit sind allein … die Instinkte ideologisch! Die Motorik! Intellektuelle Führerschaft ist veraltert, unwiederbringlich verschwunden.«
»Und was ist mit deinen Rot-Braunen?«
»Weder der Boden, noch die Ehre, noch der Sieg oder die Gerechtigkeit – nichts von alledem braucht eine Ideologie, Ljowa! Die Liebe braucht keine Ideologie. Alles was es auf der Welt an Wichtigem gibt – all das braucht keinerlei Beweise und Begründung. Das Einzige, was jetzt dringlich ist – ist eine Neuaufteilung des Landes, eine Neuverteilung der Welt – zu unseren Gunsten, denn wir sind besser. Um eine Welt zu erschaffen, braucht man Macht – das ist alles. Die, mit denen es angenehm ist, die Macht zu übernehmen, zu teilen und zu vermehren – das sind mein Brüder. Ich habe das Glück, Menschen zu kennen, mit denen zu sterben keine Schande ist. Ich hätte ein ganzes Leben leben können, ohne sie je zu treffen. Ich habe sie aber getroffen. Und damit hat alles ein Ende.«
»Aber das ist doch bloß so ein Anarchismus«, sagte Ljowa, der anscheinend ganz zufrieden war mit Saschas Antwort.
»Ljowa, ich möchte dich einfach nicht beleidigen.« Sascha, der nach wie vor an die Decke schaute – so war es ihm leichter, zu denken und zu sprechen –, drehte sich dann irgendwie zu Ljowa hin. »Ich möchte das eigentlich nicht sagen, tue es aber trotzdem. Das ist kein Anarchismus. Das ist – äußerste Klarheit. Mir ist äußerst klar, dass wir eine rot-braune Partei sind. Mehr noch – Ljowa, dieses ›Neue-in-Vergessenheit-geratene-alte-Volk‹, das du mit so wunderbaren Qualitäten versehen hast, das so arbeitsam und gutmütig ist – es ist auch nichts anderes als ›rot-braun‹. Du hast es dir ausgedacht, es existiert nicht. Es hat sich selbst dieses Schicksal ausgesucht, und vermutlich gefällt ihm das so.«
»Es gefällt ihm, dass die ganze Geschichte ein Machtwechsel mit Mitteln der Folter ist?«, fragte Ljowa ärgerlicher. »Und wenn es, dieses Volk, endgültig zur Bestie verkommt, dann beginnt es die ›Saujuden‹ zu verprügeln.«
»Oh, Ljowa, komm schon, darüber werden wir jetzt nicht … Die Russen wissen ja überhaupt nicht, was Juden sind; und dass es sie in der Welt überhaupt gibt. Noch vor zehn Jahren wusste nur einer aus Tausend, dass Mark Bernes eigentlich ein Jude ist . Von Utjossow ganz zu schweigen. Die Antisemiten in Russland waren immer entweder Ukrainer mit Familiennamen wie Gogol , Tschechow oder Bulgakow … oder Polen, mit Namen wie Dostojewskij … Und zu guter Letzt war da irgendein Lawlinskij … Blok, ein Holländer , wie es immer hieß, auch … Und jetzt noch Kunjajew , der am ehesten vermutlich von den Tataren abstammt … Die übrigen Antisemiten Russlands sind selbst Juden … Und überhaupt interessiert mich das gar nicht.«
»Was wären dann also die Juden?«, fragte Ljowa trotzdem nach.
»Höchstens Verrückte oder Verlierer«, sagte Sascha versöhnlich.
»Und wenn das
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