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Sankya

Sankya

Titel: Sankya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zakhar Prilepin
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dir los ist … Dein Großvater ist gestorben, sagte sie.«
    »Wann hat sie angerufen?«, fragte Sascha rasch.
    »Vorgestern.«
    »Und warum hast du mir das nicht gesagt?«
    »Was hättest du denn gemacht? Wärst du gefahren? Oben auf der ›Ente‹ sitzend?«
    Nachdem er Rogow verabschiedet hatte, legte sich Sascha ins Bett – in seinem Kopf verschwamm alles, es gelang nicht, über etwas Bestimmtes nachzudenken.
    Der Großvater ist gestorben … Jetzt gibt es keine anderen Tischins mehr. Er war allein – Sascha.
    Nachts träumte er vom Großvater. In letzter Zeit träumte Sascha überhaupt oft. Der Großvater saß im Vorhof der Kirche und bat um Almosen.
    Als er aufwachte, hätte er fast geweint.
    »Wozu soll das gut sein?«
    Ljowa schwieg, er las konzentriert. Er blätterte die Seiten schnell um. Sascha schaute zu seinen Büchern hin – was da nicht alles war, irgendwelche Lehrbücher, europäische Klassiker, neumodisches Zeug, sogar ein »Frauenroman« in scheußlichem Umschlag.
    »Er ist beleidigt, na und, zum Teufel mit ihm«, dachte Sascha.
    Er lag da, erinnerte sich an den Großvater – wie der ruhig starb. Er überlegte – ist die Ruhe vor dem Tod angeboren oder rührt sie von der Ermüdung von dem, was gerade eintritt?
    An die Kindheit hatte er eine schwache Erinnerung. Das Gesicht des Großvaters blitzte auf, er konnte es nicht festhalten, sich nicht daran erinnern – wie sich sein Gesicht verdüsterte, wie er sprach. Alles verschwand irgendwohin, unaufhaltsam …
    Nach dem Mittagessen verfiel Sascha vollends der Traurigkeit, und ohne selbst zu wissen, warum, sagte er plötzlich: »Ljowa, sei doch nicht beleidigt.«
    »Herrgott, ich bin nicht beleidigt«, sagte Ljowa. Aber er lächelte nicht. Er schaute Sascha an, kehrte zu seinem Buch zurück, aber es war offensichtlich, dass er nicht lesen konnte. Er flog mit den Augen über die Zeilen und kehrte wieder zum Seitenanfang zurück.
    Sascha ging raus, um zu rauchen, damit sich Ljowa nicht weiter quälte.
    »Er ist ja ein sehr guter Mensch«, dachte Sascha. »Warum haben wir miteinander zu streiten begonnen? …«
    Es war angenehm, zu rauchen; in den ersten Tagen drehte sich vom Rauchen der Kopf, jetzt ging es wieder. Es beruhigte.
    Um den Großvater tat es ihm leid … Aber Sascha hatte sich schon mit dem Gedanken angefreundet, dass der Großvater gehen, dass bald alles abreißen würde.
    Und deshalb brach das Herz auch nicht so, wie nach dem Tod des Vaters.
    »Oder ist vielleicht etwas in mir kaputt gegangen?«, dachte Sascha. »Irgendwo in mir wurde die Mitleidsader zerfetzt und abgerissen … Ist es das?«
    Niemand antwortete, und Sascha winkte ab.
    Am nächsten Tag wurde Ljowa entlassen.
    Sie schüttelten einander die Hand. Ljowa sagt etwas Beiläufiges, etwas wie – »Werd gesund«.
    Dann sagte er noch: »Die Menschheit wiederholt permanent ein und denselben Scherz. Sie lässt immer denselben Gefühlen freien Lauf.«
    »Der Suche nach Gerechtigkeit?«, fragte Sascha ein wenig unpassend, wobei es nicht klar war, ob es sich um eine Frage oder eine Bestätigung handelte.
    »Nein«, antwortete Ljowa.
    Sascha wurden die Nähte in der Brust gezogen. Merkwürdig waren diese Fäden – er schaute sie erstaunt an. Dachte – »Auch nicht schlecht, der Mensch ist wie eine Puppe, man kann ihn einfach nehmen und zusammennähen oder ausweiden.«
    Sascha wurde bald entlassen – er war wieder halbwegs auf die Beine gekommen.
    Er ging gemächlich die Straße entlang, struppig, wie ein Köter. Er humpelte und hielt seine Brust. Es krampfte manchmal schmerzhaft, als wären doch noch Glassplitter zurückgeblieben, irgendwo da drinnen. Aber trotzdem war es gut. Und auf der Straße roch es nach Spätherbst.
    Er war nur traurig, weil Jana kein einziges Mal gekommen war.
    … Er kam bis zu einem Kiosk.
    Dort setzte er sich hin, ruhig, hörte in sich hinein, als wäre er ein ganzes Jahr nicht auf der Straße gewesen. Allerdings wurde ihm bald kalt.
    Hinkend kam er zur Metro, fuhr in einem halbleeren Waggon, fühlte sich wie ein Soldat, der fast getötet und unter die Erde gebracht worden war, doch er hatte überlebt. Und jetzt fuhr er, und keiner weiß, was mit ihm geschehen war.
    Grundsätzlich waren Sascha solche halbkindischen Gedanken fremd, aber nun wurde etwas in ihm weich.
    Der Großvater fiel ihm ein, Kostenko … dann Ljowa.
    »Ljowa hat Recht«, dachte er etwa. »Der Staat ist ein Henker. Er zieht dich nackt aus und schlägt dich ins

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