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Sankya

Sankya

Titel: Sankya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zakhar Prilepin
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ganze Land aus Verrückten und Verlierern besteht?«, hakte Ljowa ein wenig provokant nach.
    »Ich weiß nicht, was das für ein Land ist … Unter den Juden gibt es – nebenbei – weniger Versager als unter den Russen, dafür aber mehr Verrückte.«
    Ljowa schwieg, runzelte die Stirn, und atmete tief durch die Nase ein.
    »Es geht um etwas ganz anderes«, sagte Sascha, der sich entschlossen hatte, jetzt alles bis zum Ende auszuführen, da er schon einmal angefangen hatte. »Das, worüber wir hier reden, ist ein völlig an den Haaren herbeigezogenes Thema, ja, es ist künstlich aufgezwungen« – hier hätte Sascha fast »von euch aufgezwungenes Thema« gesagt – »und man sollte es überhaupt vergessen.«
    »Und worum geht es dann überhaupt?«
    »Es geht darum, dass es nur die Sippe gibt, und nichts darüber hinaus. Das Verständnis dessen, was in Russland geschieht, beruht nicht auf dem Umfang des Wissens und nicht auf intellektueller Kasuistik, womit man alles Mögliche ›beweisen‹ kann, jede Frage beantworten, sondern auf dem Gefühl der Zugehörigkeit, die beim Menschen vermutlich schon in der Kindheit entsteht, und mit der man dann leben muss, weil man sie nie mehr loswird. Wenn du spürst, dass Russland für dich, wie bei Blok in den Gedichten, deine Frau ist, dann verhältst du dich zu ihm auch genauso wie zu einer Ehefrau. Frau im biblischen Sinn, an die du dich binden musst, mit der du getraut bist und mit der du bis zum Tod leben wirst. Blok hat das genial verstanden – was die Frau betrifft. Die Mutter, das ist etwas anderes – von der Mutter geht man weg. Und auch die Kinder sind etwas anderes – sie fliegen in einem bestimmten Moment aus, wie die Engel, die du aufgezogen hast. Aber die Frau – die ist unumstößlich. Die Frau – das ist jene, die du empfängst. Du untersuchst sie nicht, du betrachtest sie nicht mit Interesse oder mit Abneigung: was bist du für eine, was machst du da, kann ich dich gebrauchen, und wenn ich dich brauche – wozu, sondern du liebst sie, und alleine das sagt dir, wie du leben sollst. Und in diesem Fall gibt es auch keine Wahl. Das stimmt nicht, Ljowa, wenn da gesagt wird – das Leben sei immer eine Wahl. Manchmal gibt es keine Wahl. Wenn du liebst, dann hast du auch schon keine Wahl mehr. Wenn du eine Heimat hast … Da gilt dasselbe …«
    Sascha war plötzlich ermattet. Er hatte nicht gedacht, dass er so lange würde sprechen können. Mehr als das – er hatte auch nie speziell darüber nachgedacht, was er da gerade sagte. Wahrscheinlich lag das alles unartikuliert irgendwo im Inneren herum und fügte sich zusammen, sobald es eine Notwendigkeit gab.
    Ljowa zuckte zur Antwort mit den Schultern.
    Eine Zeitlang schwieg er, dann sagte er: »Man kann mit dem streiten, der die Wahrheit sucht, mit jenem, der sich in seiner Meinung bestätigen lassen will, ist zu streiten unnütz.«
    »Du hast nichts verstanden«, antwortete Sascha.
    »Und du hast nichts gesagt.«
    Sie hatten sich schließlich zerstritten.
    Es war unangenehm, schweigend dazuliegen, sich in Gedanken weiter zu beschimpfen, doch zum Glück kam Rogow. Wieder mit Obst. Und mit Zigaretten. Sogar ein wenig Geld brachte er mit. Von Matwej, wie sich herausstellte.
    Sie gingen hinaus rauchen.
    »Matwej ist aufgetaucht«, erzählte er. »Alles ist offenbar in Ordnung.« Das »Kontor« hatte sie warum auch immer in Ruhe gelassen.
    Sascha hörte schweigend zu.
    Ihm wurde sofort irgendwie leichter. Rogow war deutlich und geradlinig – er wirkte wie einer, der die Welt als einen Mechanismus ansah, in dem sich etwas verbog, das man dann wieder geraderichten musste, sodass es nicht zu funktionieren aufhörte.
    »Kurz gesagt, du hast am meisten von allen abbekommen«, sagte Rogow.
    »Noch ist nicht klar, was sie mit unseren Jungs dort in Lettland machen«, antwortete Sascha.
    »Das stimmt«, bestätigte Rogow.
    »Warum haben sie trotz allem Jana nicht angerührt?«, überlegte Sascha.
    Als würde er erraten, worüber Sascha nachdachte, sagte Rogow: »Gleich nachdem sie dich verhaftet haben, wurde Jana gesehen, wie sie aus dem FSB herauskam.«
    Sascha starrte Rogow an.
    »Und, was weiter?«
    »Nichts weiter. Man hat es Matwej berichtet, der winkte ab und ordnete an, nicht rumzuquatschen.
    Sascha verstummte.
    »Ich verstehe gar nichts.«
    Er begann noch eine zu rauchen – im Weggehen sagte Rogow plötzlich etwas, das noch noch mehr schmerzte: »Deine Mutter hat im Bunker angerufen. Sie fragte, was mit

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