Sankya
gab fast keinen Wind. Der Schnee erinnerte an das Kardiogramm eines Sterbenden – die geraden Linien wurden manchmal abrupt unterbrochen, dann zogen sie sich wieder streng und still, bis auf den Asphalt hinunter.
Er hatte das Gefühl, er würde sofort hops genommen, gleich beim Betreten des Zuges. Es würde etwas Widersinniges passieren, ein blödsinniger Zufall – die Zugbegleiterin etwa, eine müde Frau in blauer Unform, würde den Reisepass anschauen und empört sagen: »Aber das bist doch gar nicht du! Du – bist Sascha Tischin. Dieser Pass ist gefälscht! Leute, schaut euch den an! Er hat einen gefälschten Pass!«
Aber die Zugbegleiterin sagte nichts.
Er stieg auf die obere Liege in seinem Abteil, wobei er lange überlegte, ob er die Schuhe ausziehen sollte – sicher würden sie kommen und ihn verhaften, dann müsste er sie erst recht wieder anziehen.
Die Knarre, die Sascha Matwej übergeben hatte, lag jetzt in einer Zwischendecke der Toilette neben dem Eingang, am anderen Ende des Waggons. Sascha waren nur der Name der Zugbegleiterin und die Wagennummer mitgeteilt worden, man hatte ihm gesagt, er solle die Pistole kurz vor Riga abholen, etwa eine halbe Stunde vor Ankunft. Auf eine vereinbarte Frage hin würde sie ihm alles aushändigen.
Sascha lag da und überlegte, wie sie ihm die Knarre wohl übergeben würde – da werden überall Leute herumlaufen, denen es auffällt, wenn die Zugebegleiterin einem Typen ein Paket zusteckt.
Die Tür des Abteils ging auf, Sascha starrte den eintretenden Mann mit weit aufgerissenen Augen an; der schaute sich suchend um, blickte auf seine Brust und seine Schultern, ob er sich nicht etwa beschmutzt hatte.
Sascha wandte sich rasch ab, ärgerte sich über sich selbst. Als der nächste Passagier hereinkam, konnte er sich wieder nicht zurückhalten und starrte ihn an. Es war wieder ein Mann.
»Vielleicht sind das Geheimdienstler, die sich hier versammeln?«, überlegte er.
Er begann sie aus dem Augenwinkel zu beobachten, er wollte irgendwelche Hinweise entdecken, die verrieten, dass sie zum Geheimdienst gehörten. Und derartige Merkmale waren natürlich überall zu finden.
Einige Minuten später drehte sich Sascha zur Wand, von all dem erschöpft.
Noch jemand kam herein.
Dann setzte sich der Zug in Bewegung.
Sascha sah, wie Moskau davonglitt, langweilig, verschneit.
Die Fahrkarten wurden kontrolliert, aber auch jetzt begann keiner zu schreien, da sitze ein Mörder unter falschem Namen im Waggon. Der Pass wurde ihm zurückgegeben. Fast hätte Sascha gefragt: »War’s das?« Er lag auf seiner Liege, gab sich alle Mühe, die Augen nicht aufzumachen, an nichts zu denken, vor allem nicht an das, was ihm bevorstand. Die Hauptsache war – anzukommen. Ankommen, das war alles.
»Ankommen«, wiederholte er. Dann schlief er nervös ein – von Zeit zu Zeit schreckte er auf und kontrollierte mit verschwommenem Blick, wer sich da im Abteil befand und schlief wieder ein.
Der Zug fuhr vor sich hin – es war, als würden die Sehnen in die Länge gezogen. Im nächsten Moment reißen sie ab, im Inneren entsteht ein heftiger Schmerz und in den Augen bersten die Äderchen.
… Oder nicht die Sehne, sondern der Nerv aus dem kranken Zahnfleisch, aus der Kieferhöhle, und der Nerv zog den ganzen kranken Kopf nach, mit tierischen Augen, als wäre dieser Nerv zu einer Wurzel gewachsen, in die Tiefe des Schädels hineingekrochen, hätte das Gehirn umgarnt und sich bis in den Schädelknochen hineingefressen. Reiß den Nerv ab, und der ganze Kopf zerbricht.
Sascha wälzte sich auf der obersten Liege hin und her. Er spürte die vielen Knochen in seinem Körper: ständig war ihm etwas im Weg – die Ellbogen, Knie, Wirbelsäule; lieber hätte er sich aufgelöst, um wie weiche Sülze dazuliegen.
Er löste sich nicht auf, sondern stand wütend auf, war ganz aus Sehne und Knochen, rauchte beim Waggoneingang. Er blies den Rauch kräftig gegen das Fenster. Der Rauch breitete sich aus, im Halbdunkel kam ein Gesicht zum Vorschein, deutlich, fest, aus einem ganzen Stück gemacht.
»Es sind gar keine Geheimdienstler da«, sah Sascha schließlich ein, »weder im Waggon, noch sonst wo. Ich werde nicht aufgehalten. Man kann mich nicht aufhalten. Nichts ist aufzuhalten …«
Beim Eingang des Waggons stehend, verstand er plötzlich, dass eine Revolution unvermeidbar war. Er schaute sein Gesicht im Fenster an und sah sie näherkommen, sie würde Schrecken und Raserei mit sich bringen –
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