Sankya
freudvoll. Das ideale Wetter, um jemanden zu erschießen.
Der Weg zum Richter zog sich. Sascha bedauerte, dass er die Knarre so weit entfernt vergraben hatte.
»Eine lieblich schöne, märchenhafte Stadt«, dachte Sascha, als er die weißen, rosa und beigefarbenen eleganten Gebäude betrachtete; unter den Füßen Kopfsteinpflaster, große Fenster in den Häusern, in den Dachgeschossen kleine Luken. »Warum wohnen hier so bösartige Menschen? Wären sie nicht so bösartig, würde sie niemand töten.«
Entlang der Straße standen Bäume, die akkuraten Gebinden glichen. Neben dem Bürgersteig lag dreckiger Schnee, wo auch immer der hergekommen war, wie Müll. Dass jetzt Winter war, war in der Stadt praktisch nicht zu merken.
Und da gab es unzählige Straßenlaternen. Manche bogen ihre schlanken Hälse – einige standen auf schwarzen Beinen, andere hingen wie Kübel an den Türen.
Die Straßen waren sehr sauber, und der Schatten des Gehenden irrlichterte im Schein der Laternen herum.
Es gab wenig Aushänge und Werbungen. Sascha buchstabierte die Schilder laut vor sich hin.
Er überquerte eine dreispurige Fahrbahn, auf der schöne Busse fuhren – die breiteste Straße, die er sah – dann tauchte er wieder in die Gassen des alten Riga ein. Offenbar war genau das die Altstadt von Riga, von der irgendwann irgendwer gesprochen hatte. Vielleicht im Fernsehen?
Im Unterschied zu den geraden Straßen der russischen Städte machten die Gassen in Riga eine Kurve, was meist unmöglich machte, dass man sie ganz überschauen konnte – nur einige Häuser, einige Laternen, einige, zwar schöne, aber sehr zurückhaltende Schaufenster, die innen mit warmem, rosa Licht ausgeleuchtet waren. Die Häuser standen direkt nebeneinander, meist gab es keinen Abstand zwischen ihnen.
»Und irgendwo hier ist Nega herumgelaufen«, dachte Sascha. Er stellte ihn sich vor, versuchte, sich an Negativ zu erinnern, an irgendwelche Erlebnisse mit ihm.
Sascha wurde plötzlich klar, was das Wichtigste an Negativs Charakter war: Das angeborene Gefühl innerer Würde. Und dann kam – vielleicht zufällig – zum allgemeinen Kodex des normalen, unteilbaren Weltbildes der Jungs ein Wort wie »Heimat« dazu. Und das hatte alles entschieden.
So war nicht nur Nega, in einer Sache waren sich alle »Sojusniki« ähnlich: egal ob vierzehn, siebzehn, oder neunzehn – fast jeder von ihnen hatte ein Gefühl der eigenen Würde, sehr bestimmt, unverstellt.
Sascha war überzeugt, dass niemand im Gefängnis Negativ
je etwas anhaben könnte – einfach deshalb, weil niemand solche Jungs beleidigen kann. Es ist unmöglich, sie zu beleidigen, sie sind anders – es wäre einfacher, sie umzubringen. Auch das wäre kein Problem, aber welchen Effekt hätte es …
Wegen der rasch wechselnden Gedanken bemerkte Sascha nicht, dass er schon angekommen war – plötzlich sah er an der Hausecke das Schild mit der Hausnummer, an die Nummer konnte er sich erinnern; jetzt aber blickte er sie wie zum ersten Mal an – er überlegte, ob sie wohl Glück brächte, oder nicht.
Ohne das zu entscheiden, drehte er sich um und ging auf die andere Straßenseite.
Der Richter wohnte in einem zweistöckigen, rosafarbenen Haus in einer ruhigen Straße. Das Haus war von einem Zaun umgeben. Die Metalltür war von innen verschlossen.
Sascha schaute auf die Fenster, presste die Augen zusammen, er war ruhig. Er stelle sich vor, wie jetzt der Vorhang zur Seite gezogen würde, das Gesicht des Richters auftauchte, eine dunkle Silhouette, weiße Hände … und wie er Sascha mit dem Finger droht: »Ich werde dich …«
Er zuckte angewidert mit den Achseln und ging spazieren. Er schaute sich nach einer Bank um, um sich dort ruhig hinzusetzen und abzuwarten. Es konnte keine Bank finden.
»Ich nehme mir einen Stuhl aus dem Hotel mit«, überlegte Sascha, »stelle ihn hier hin, und schaue. Eine Staffelei bräuchte ich noch … Ich tue so, als würde ich ein Bild malen …«
Sascha kicherte und erinnerte sich an seine Kinderzeichnungen und die Note Drei im Zeichnen. »Das wird ein gutes Bild … Ich sag, ich bin ein Konzeptualist. Ein Primitivist. Kubist. Faschist …«
Er schlenderte herum, überlegte, ob wohl der Richter abends mit dem Hund Gassi ging, und wenn er es tat – wann? Frühstückt er im Café? Wird er von der Arbeit mit einem Auto nach Hause gefahren, oder geht er manchmal zu Fuß?
Wenn er chauffiert wird – fährt dann das Auto hinters Tor und steigt er
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