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Sansibar Oder Der Letzte Grund

Sansibar Oder Der Letzte Grund

Titel: Sansibar Oder Der Letzte Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Andersch
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Höchste Zeit! Um fünf Uhr legt die ›Pauline‹ ab. Er sah Gregor und den Pfarrer noch einmal an und sagte: Worauf ihr euch verlassen könnt!
    Er wandte sich ab und ging weg. Als er beinahe am Portal angelangt war, rief Gregor ihm nach: Genosse Knudsen!
    Knudsen blieb stehen. Er sah zurück.
    Es ist Parteibefehl, Genosse Knudsen, sagte Gregor.
    Knudsen gab keine Antwort. Er setzte seine Schiffermütze auf und öffnete die Türe. Draußen war es heller als in der Kirche. Er blieb einen Augenblick stehen und dachte: das hab ich hinter mir. Dann ging er schnell davon.
    Seine Frau ist ein wenig geisteskrank, sagte der Pfarrer. Er hängt sehr an ihr.
    Er schwieg, und dann sagte er: Es wird mir nichts übrigbleiben, als die Figur zu verbrennen. Den Anderen lasse ich sie nicht in die Hände fallen.
    Keine Sorge, antwortete Gregor, Knudsen wird sie nach Schweden bringen.
    Knudsen? fragte der Pfarrer erstaunt. Sie täuschen sich.
    Gregor gab keine Antwort darauf. Passen Sie auf, begann er zu erzählen, wir gehen jetzt zusammen hinaus. Sie werden abschließen und dann werden Sie mir unauffällig den Schlüssel für dieses Portal geben. Wir werden uns um Mitternacht in der Kirche treffen und zusammen die Figur abnehmen. Bringen Sie eine Decke und zwei Riemen mit, damit wir sie verpacken können.
    Und dann?
    Dann nehme ich sie mit.
    Aber Knudsen wird dann längst weg sein.
    Das wollen wir schon sehen, sagte Gregor, fast träge.
    Helander schüttelte ungläubig den Kopf. Aber ich sollte es versuchen, sagte er sich gleichzeitig. Dieser Mensch hat eine seltsame Sicherheit an sich. Es wäre merkwürdig, wenn dieser fremde Mensch meine Figur retten würde. Es wäre geradezu ein Wunder.
    Taktik? fragte er plötzlich, ist das wirklich nur eine Taktik Ihrer Partei?
    Klar, sagte Gregor, es ist Taktik. Eine neue Taktik ist etwas Wunderbares. Sie ändert alles.
    Eine unverständliche und unbefriedigende Antwort, dachte der Pfarrer. Aber plötzlich sah er Gregors Hand. Sie lag auf der Schulter des ›Lesenden Klosterschülers‹; in einer leichten und brüderlichen Bewegung hatte sie sich auf das Holz gelegt.
    Der Junge
    Leg die Schoten fest, wir kriegen Wind, sagte Knudsen, und der Junge dachte: wir können noch soviel Wind kriegen, in richtige Gefahr kommen wir doch nie bei der Küstenfischerei. Wenn’s ein bißchen mulmig wird, gehn die Fischer sofort unter Land, wo den Kuttern nicht das geringste passieren kann. Der letzte, dem was passiert ist, ist Vater gewesen, ‘nem Kutter kann nur was zustoßen, wenn er draußen auf offener See ist und so ab Windstärke 9. Aber sie gehen nicht auf die freie See raus, und bei Windstärke 7 drehen sie schon ab und fahren unter Land.
    Judith - Gregor - Knudsen
    Eine Jüdin, dachte Gregor, das ist ja eine Jüdin. Was will die hier in Rerik? Er sah Judith unter den Menschen stehen, die zusahen, wie der schwedische Dampfer anlegte. Niemand blickte auf Judith, das war nicht üblich in den kleinen Häfen des Nordens, aber Gregor konnte sehen, daß sie nicht zu den Leuten gehörte; niemand sprach mit ihr, sie war eine Fremde, eine junge Fremde mit einem in Rerik ungewohnten Gesicht. Gregor erkannte das Gesicht sofort; es war eines der jungen jüdischen Gesichter, wie er sie im Jugendverband in Berlin, in Moskau oft gesehen, hatte. Dieses hier war ein besonders schönes Exemplar eines solchen Gesichts. Und außerdem war es auf undefinierbare Weise von den Gesichtern, an die es Gregor erinnerte, verschieden.
    Dunkelheit war hereingebrochen, besonders das Meer war völlig dunkel, es war nicht mehr blau und eisig, nur im Westen stand noch ein gelber Schein, und auf dem Hafenkai waren die großen elektrischen Scheinwerferlampen angezündet, die an Drähten hingen. Wenn Gregor auf das Meer hinausblickte, konnte er draußen das regelmäßige Blinken eines Leuchtturms sehen. Das Heck des Dampfers schob sich nun langsam an den Kai heran; ›Kristina-Kalmar‹ las Gregor. Die Lampen überfluteten den Kai und das Schiff mit einem kalkigen Licht. Manchmal schwankten sie an ihren Drähten, denn die Luft war nicht mehr so ruhig wie am Nachmittag, harte kleine Windstöße fuhren aus den Hafenstraßen heraus über den Platz, und in den Böen sah Gregor das schwarze Haar des Mädchens, wie es in Strähnen und Schleiern über ihr Gesicht flatterte.
    Es war überhaupt Bewegung in den Hafen gekommen. Knudsen, auf dem Deck der ›Pauline‹ stehend, sah mit Mißfallen, daß die ersten Kutter vom Fang zurückkamen; rasselnd

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