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Sansibar Oder Der Letzte Grund

Sansibar Oder Der Letzte Grund

Titel: Sansibar Oder Der Letzte Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Andersch
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Kapitän war an Land gegangen. Ihr Lachen stieg auf wie die Kohlensäurebläschen in der grünen Flasche vor ihr. Sie las das Etikett. ›Apotekarnas Sockerdricka‹ stand darauf. Aportekarnas Sockerdricka, Apotekarnas Sockerdricka, lachte sie, sie lachte es hell hinaus, sie jubelte es beinahe, und auf einmal merkte sie, daß sie es weinte, und schluchzend stand sie auf und ging an dem Steuermann vorbei, an dem anständigen, unreifen, verständnislosen, peinlich berührten Gesicht vorbei und verließ die Kajüte.
    Der Junge
    Er kam unbemerkt in die alte Gerberei an der Treene rein. In der Dunkelheit tappte er vorsichtig die Stiegen hoch. Er konnte den Staub riechen, der im Haus lag, auf den Treppen und in den Räumen, deren Türen lose in den Angeln hingen oder herausgebrochen waren. Auf dem Speicher oben hing graues Licht, es kam durch ein großes Fenster, dessen Scheiben fehlten, und durch die Lücken im Dach, an den Stellen, wo die Dachpfannen vom Lattenrost geglitten waren. Es war noch gerade soviel Licht, daß der Junge alles sehen konnte, aber selbst wenn es ganz dunkel gewesen wäre, hätte er sich zurechtgefunden, denn er kannte den Speicher wie seine Hosentasche. In der einen Ecke, über der das Dach noch heil war, hatte er sich sein Versteck gebaut, einen Verhau aus Kisten und dahinter ein Lager aus Stroh und Säcken, mit einer alten Decke darüber, auf dem er liegen und in Ruhe lesen konnte, sogar bei Nacht; er hatte es ausprobiert, daß man das Licht einer Kerze oder Taschenlampe von draußen nicht sehen konnte, so gut hatte er sich verbarrikadiert. Es kam nie jemand auf den Speicher, die alte Gerberei stand seit Jahren zum Verkauf, aber niemand interessierte sich dafür, und der Junge lebte seit dem Frühjahr hier oben, in jeder Stunde, die er von zu Hause weg konnte.
    Er ging in sein Versteck, legte sich hin, kramte eine Kerze hervor und zündete sie an. Dann zog er den »Huckleberry Finn‹ aus der Tasche und begann zu lesen. Nach einer Weile hörte er damit auf und dachte nach, was er im Winter machen sollte, wenn es auf dem Speicher zu kalt sein würde. Ich muß mir einen Schlafsack besorgen, dachte er, aber auf einmal wußte er, daß er bald nicht mehr hier heraufkommen würde. Er hob das Brett hoch, unter dem er seine Bücher versteckt hatte, da lagen sie, und zum erstenmal betrachtete er sie mit einem Gefühl des Mißtrauens. Er hatte den Tom Sawyer und die Schatzinsel und den Moby Dick und Kapitän Scotts letzte Fahrt und Oliver Twist und ein paar Karl-May-Bände, und er dachte: die Bücher sind prima, aber sie stimmen alle nicht mehr, so, wie es in den Büchern zugeht, so geht es heute nicht mehr zu, in den Büchern wird erzählt, wie Huck Finn einfach wegläuft und wie Ismael angeheuert wird, ohne daß er das geringste Papier besitzt, heutzutage ist das ganz ausgeschlossen, man muß Papiere haben und Einwilligungen, und wenn man weglaufen würde, wäre man sehr schnell wieder eingefangen. Aber, dachte er, man muß doch hinaus können, es ist doch unerträglich, daß man Jahre warten soll, um etwas zu sehen zu kriegen, und selbst dann ist es noch ungewiß. Er zog eine seiner Landkarten hervor und breitete sie aus, er hatte den Indischen Ozean erwischt und er las die Namen Bengalen und Chittagong und Kap Comorin und Sansibar und er dachte, wozu bin ich auf der Welt, wenn ich nicht Sansibar zu sehen bekomme und Kap Comorin und den Mississippi und Nantucket und den Südpol. Und zugleich wußte er, daß er mit den Büchern zu Ende war, weil er erkannt hatte, daß man Papiere brauchte; er legte die Bücher und die Landkarten wieder unter das Brett und machte das Brett wieder fest, und dann löschte er die Kerze und stand auf. Er spürte, daß der Speicher nichts mehr für ihn war, er war nur ein Versteck, und ein Versteck war zu wenig, was man brauchte, das war ein Mississippi. Sich verstecken hatte keinen Sinn, nur Abhauen hatte einen Sinn, aber dazu gab es keine Möglichkeit. Er war bald sechzehn Jahre alt, und er hatte begriffen, daß er mit dem Speicher und mit den Büchern zu Ende war.
    Der Junge ging zum Fenster, von dem aus man die ganze Stadt überblicken konnte, er sah auf die Türme im Flutlicht und auf die Ostsee, die eine dunkle Wand ohne Tür war. Auf einmal fiel ihm der dritte Grund ein. Während er auf Rerik blickte, dachte er Sansibar, Herrgott nochmal, dachte er, Sansibar und Bengalen und Mississippi und Südpol. Man mußte Rerik verlassen, erstens, weil in Rerik nichts los war,

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