Sansibar Oder Der Letzte Grund
in unserer Hamburger Villa, das Frühstücksporzellan und die späten Georginen, und heute schon die Sprache einer Dirne. Der Schwede schien im Freien sofort nüchterner geworden zu sein. Er ging ohne zu schwanken, ordentlich und schweigsam neben ihr her und geleitete sie sorgsam über die Gangway auf das Deck.
Sie drehte sich um und fragte: Sind Sie der Kapitän?
Nein, sagte er, ohne zu lachen, ich bin der Steuermann. Er führte sie in eine Kajüte, die braun getäfelt war, mit altem, blind gewordenem Mahagoniholz getäfelt.
Das ist die Kapitänsmesse, erklärte er. Er lud sie ein, an dem mächtigen braunen Tisch Platz zu nehmen, der fast den ganzen Raum ausfüllte.
Auf einmal spürte Judith seine Verlegenheit. Er ist ja ganz verlegen, dachte sie, verlegen und nüchtern. Er ist ein ordentlicher junger Steuermann, und ich habe ihn in Verlegenheit gebracht, als ich seine Einladung annahm. Er hatte sich oben, an Deck, an zwei Leuten von der Mannschaft vorbeigedrückt.
Ich will den Whisky holen, sagte er. Er ist da drin. Er deutete auf einen Schrank, der in einer Ecke stand. Der Koch hat den Schlüssel.
Er ging hinaus. Während Judith wartete, dachte sie an sein anständiges Gesicht. Sein anständiges, unreifes Gesicht. Er kam zurück. Der Koch hat den Schlüssel nicht, sagte er, der Kapitän hat ihn eingesteckt. Und der ist an Land gegangen.
Er zog einen Schlüsselbund heraus und versuchte einige der kleinen Schlüssel, die daran hingen. Es ist zwecklos, dachte Judith, der Schrank hat ein Sicherheitsschloß. Sie beobachtete den jungen Mann, der dunkelrot wurde. Sie sah ihm mit grausamer Aufmerksamkeit zu. Er schüttelte den Kopf und ging wieder hinaus. Judith saß ganz still in dem kleinen, braunen, trüb erleuchteten Raum. Manchmal war das Schwappen des Wassers an der Bordwand zu vernehmen, das Zischen einer Bö, die an dem Schiff riß. Nach einer Weile sah Judith auf ihre Armbanduhr; es mußte schon eine Viertelstunde vergangen sein, seit sie hier saß. Es ist ganz klar, dachte sie, er will mich los sein. Ich soll gehen. Er hat auf einmal Angst vor seinem Mut bekommen, Angst vor seinem Kneipenmut, vor seinem Kneipenverlangen, er hat gar nicht damit gerechnet, daß es so leicht sein würde, aber es war leicht, ich war ein leichtes Mädchen, und nun ist ihm die Sache peinlich, er ist in Wirklichkeit ein ordentlicher junger Mann aus einer ordentlichen Familie. Und die Sache mit dem Schrank ist ihm peinlich, er hat sich vor mir blamiert, er kommt nicht wieder, er wartet jetzt irgendwo, daß ich begreife und gehe. Was würde Mama jetzt tun, an meiner Stelle, fragte sie sich, aber sie fand keine Antwort. Es gab Situationen, für die Mama nicht zuständig war, obwohl Mama so sicher und damenhaft gewesen war, aber sie war auch romantisch gewesen, sie hatte Judith nach Rerik geschickt, aber Rerik war nicht romantisch, man wurde hier erwachsen, man wurde hier ein zu schnell erwachsenes leichtes Mädchen, das grausam beobachten konnte und dennoch hilflos war, es war ein zu rascher Sprung gewesen, von der Georginenvilla, von der feinen, vergifteten Selbstmordvilla in die Härte einer Mädchenherumtreiberei, einer Flittchenflucht.
Er kam noch immer nicht, während sie verzweifelt nachdachte, aber nach einer Weile hörte sie vor der Tür zwei Stimmen längere Zeit miteinander flüstern, Polizei, dachte sie angstvoll, aber dann war es schließlich doch der Steuermann, der hereinkam. Er kam in einer aufsässigen, unverschämten Haltung herein, eine Flasche in der Hand.
Der Koch hat nur das, sagte er grob. Er stellte die Flasche auf den Tisch und ein Glas dazu. Er hatte sich offensichtlich dazu entschlossen, Judith verächtlich zu behandeln. Er entschuldigt sich nicht einmal, dachte sie. Sie wurde auf einmal wieder, was sie war: eine junge Dame aus einer Hamburger Villa.
Sie haben mich lange warten lassen, sagte sie.
Er begriff augenblicklich. Statt einer Antwort sagte er: Sie müssen dann gehen. Wenn der Kapitän kommt… Seine Stimme klang klein, er gab auf, Not war in seiner Stimme.
Trinken Sie nichts? fragte Judith. Es gab nichts mehr zu sagen; sie konnte Konversation machen.
Er schüttelte den Kopf. Er goß das Glas voll. Judith nippte daran. Es war Limonade.
Der Kapitän nimmt immer den Schlüssel mit, sagte er beklommen.
Judith brach plötzlich in ein Gelächter aus. Sie prustete förmlich ihr Lachen heraus. Der Kapitän hatte die Schlüssel in der Tasche, die Schlüssel zu ihrer Flucht vor dem Tode. Aber der
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