Sanssouci
Angetrunkenheit war, fand er, eine radikalere Verweigerungshaltung als Betrunkenheit. Der Betrunkene ist für wenige Stunden bis zur Besinnungslosigkeit betrunken, dann schwappt sein Zustand wieder hinüber Richtung Nüchternheit. Ein Ebbe-und-Flut-haftes Auf und Ab zwischen völliger Betäubung und dauerndem Zu-sich-Kommen. Angetrunkenheit dagegen war ein ständiger Zustand, den man über den ganzen Tag, die ganze Woche und den ganzen Monat prolongieren konnte. Man trank morgens um neun ein erstes Bier, um elf ein zweites, um zwölf ein drittes, man brauchte gar nicht viel, und zu Hause war man trotzdem noch halbwegs ansprechbar.
Er hatte sich ein Luisenplatzdasein angewöhnt. Man saß dort herum und ließ sich gegenseitig in Ruhe. Inzwischen kannte Ludwig Hofmann jeden dort. Er selbst war nicht bei allen beliebt, dafür war er noch zu sehr im Staatsnetz verankert, hatte noch Familie, hatte noch Kinder, die ihn kannten, hatte noch einen Arzt.Hundekarl aus Belzig rümpfte stets die Nase über Hofmann. Für den Obdachlosen war es so, als mische sich einer vom Heiligen See unter sie. Hundekarl verbreitete nach Kräften das Gerücht, Hofmann mache den Rasen sowohl bei Jauch als auch bei Joop. Der einarmige Horst, auch genannt Evangeliumshorst, war stets betrunken und sehr guter Laune, wobei er ab etwa drei Uhr nachmittags immer einen ausgesprochenen Hang zu philosophischen Welterklärungen hatte. Er hielt dann von der Bank am Luisenbrunnen aus seine Reden ans vorbeiziehende Volk. Hofmann verstand sie meistens nicht, und wenn er etwas verstand, dann waren es Allgemeinplätze wie »Ich sage euch, alles ist das Gegenteil. Glaubt keinem ein Wort, glaubt immer genau das Gegenteil! Glaubt immer genau das Gegenteil von dem, was die Leute sagen, dann seid ihr immer im Besitz der Wahrheit« etcetera . Für Hofmann waren diese Welterklärungen, die sich meist über Stunden erstreckten, zur ständigen Hintergrundmusik geworden. So brauchten sie in ihrem paradiesischen Zustand am Brunnen nicht einmal ein Radio. Brauchten die Vögel ja auch nicht. Die sangen ja ebenfalls selbst oder taten gar nichts. Suchten im Sommer übrigens stets eine Wasserstelle, wie sie, die Leute vom Luisenbrunnen. Vogelexistenzen. Helmut Klippenberg alias Finsterklappe saß meist in sich gekehrt und mit dunkler Miene herum und machte seinem Namen alle Ehre. Hofmann wurde geduldet, man vertrieb ihn nicht vom Platz, aber er wäre doch nichts weiter als ein Fremdkörper in diesem kleinen Garten Eden gewesen, wenn er nicht ein näheres Verhältnis zum alten Baron bekommen hätte. Die beiden hattensich in letzter Zeit angefreundet. Der eine schaute in die eine, der andere in die andere Richtung, so tranken sie in gemeinsamem Rhythmus Bier und ließen die Stunden verplätschern. Auch der alte Baron mischte sich in das allgemeine Gezwitscher am Brunnen. Seine nächtlichen Besuche auf Hornungs Grundstück hatte er längst eingestellt. Genau wie Hofmann.
Es hatte sich gezeigt, daß Hofmann und der Baron eine Menge gemeinsame Bekannte hatten. Der eine konnte den anderen hierbei in seinen Informations- oder Vorstellungslücken wunderbar ergänzen, und niemand mußte entscheiden, ob er dem anderen Glauben schenken sollte oder nicht, weil ohnehin die ganze Welt unterging in jener Daseinsmelodie vom Luisenplatz, die Zeit und Raum ebenso aufhob wie die Frage, ob etwas zutraf oder nicht. Hier war Sprache, was sie von jeher bloß war: Sprache. So versammelte sich die ganze Welt im Singsang auf dem Luisenplatz, alles wurde verhandelt, und nichts geschah, und von außen sah es genauso aus, wie wenn sich am Frühabend die Amseln auf dem Platz versammelten und mit ihrem Gesang und ihrem Ticksen eine, zivilisatorisch gesprochen, ebensolche Epoché übten wie die Männer mit ihren Flaschen dort. Alles war nichts und umgekehrt, und der einarmige Horst konnte darüber stundenlang und sehr erschöpfend dozieren, denn er war ein Philosoph, der nur selten schwieg und dessen Lehre genauso einfach und wahr und unter diskursiven Gesichtspunkten völlig unverwertbar war wie das Deklamieren der Amseln. Aber der einarmige Horst gehörte ja auch in keine Hochschule und in keine Redaktionsstube … er gehörteda ebensowenig hinein wie eine Amsel. Übrigens sagte er das von sich selbst fast genauso. »Ich gehöre nicht auf die Universität, ich gehöre ins Evangelium.«
Was am Brunnen erzählt wurde, kam Ludwig Hofmann überaus schlüssig vor. Er wäre selbst gar nicht auf den Gedanken
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