Santiago liegt gleich um die Ecke
überqueren, zweimal sogar ein ganzes Stück an einer entlanglaufen. Und jedes mal fällt mir auf: StraÃen stinken ! Immer, wenn ich aus dem Grünen auf den Asphalt trete, renne ich gegen eine Wand aus DieselruÃ, Reifenabrieb und unverbranntem Benzin. Das kann nicht gesund sein! Zum Glück kommt bald ein Krankenhaus.
Auf einer Bank, neben der sich zwei rauchende ältere Herren in Ballonseidenanzügen über die Kölner U-Bahn unterhalten, atme ich tief durch. Und nutze den Aufenthalt zugleich, mir endlich ein Blasenpflaster unter den Fuà zu pappen. Ich kann es nicht mehr leugnen: Offenbar habe ich gestern zu wenig Pausen gemacht ⦠So was muss drin sein ! Ab Morgen werde ich früher aufstehen, damit ich mir unterwegs mehr Zeit nehmen kann! Dann mache ein paar Einträge in meinem Notizbuch. Irgendwie fällt meine Schrift ein wenig ordentlicher aus als noch vor ein paar Tagen, aber insgesamt ist sie immer noch so unleserlich wie eine Arztunterschrift. Da perlt in mir eine
Frage hoch: »Sind dir deine Worte so wenig wert, dass du sie so hinschmierst?« Ich versuche, noch langsamer zu schreiben, aber es klappt nicht.
Ich laufe und laufe. Das ist jetzt wirklich mal eine schöne Etappe! Nur einmal passiert etwas Seltsames. Unvermittelt taucht ein StraÃenschild mit der Aufschrift »Kölner StraÃe« vor mir auf. Ich denke an das volle Köln, an den Dom und wie ich in dem Gewusel ein Zimmer bekommen soll. Ich kriege Beklemmungen, wenn ich an diese Stadt denke, mir bleibt fast die Luft weg, es ist, als greife irgendwas durch die Brust nach meinem Herz. He, was ist denn da los? Der folgende Weg ist zum Glück erstmal das Gegenteil von Köln: Es geht an Bächen, Flüssen und Wiesen entlang, die auch in einer Märchenfilm-Kulisse neben reitenden Prinzen in Strumpfhosen eine gute Figur machen würden. Nett geschwungene, bewaldete Hügelchen, darüber ein paar Schäfchenwolken an den blauen Himmel gepufft; die Bäume schmücken sich schon mit einem zarten Hauch von Chlorophyll. Bald trage ich diese Landschaft in mir. Bin die Ruhe selbst. Aha! Geht doch!
Ich passiere ein Ortsschild, auf dem irgendwas mit Alt-Beyenburg steht â prima, da kann Beyenburg selbst ja auch nicht mehr weit sein! Ich gehe über die Wupper und gönne mir ein paar Minuten an einem
lauschigen See, in dem sich die Gebäude des Dörfchens samt einer grauen Kirche spiegeln. Kurz darauf arbeite ich mich schwitzend wie ein Schaf vor der Schur einen unglaublich pittoresken Waldweg hoch; meine Schuhe versinken dabei fast in einem Teppich aus weichen Tannennadeln. Oben trinke ich mein allerletztes Wasser aus. Bin ja gleich da. Weiter geht es über etliche Hobbit-taugliche Mittelerde-Pfade durch einen Wald, es folgen Feldwege, es ist wirklich eine Lust, hier langzustiefeln â auch wenn der Rucksack allmählich wieder anfängt zu drücken wie das schlechte Gewissen einen Amokläufer nach einem Schulmassaker. Immerhin scheint sich mein Kopf allmählich zu leeren: Vorhin habe ich mich bei dem Gedanken ertappt, dass ich die ganze Zeit davor irgendwie gar nichts gedacht habe. Ob es sowas wie ein »Zen des Wanderns« gibt?
Ich ertappe mich bei dem Gedanken, nichts zu denken.
Obwohl: Irgendetwas stimmt nicht. Die FüÃe schmerzen, der Rucksack hängt an mir wie ein toter Elefant, ich habe einen mordsmäÃigen Durst. Es dauert eine Weile, bis mir aufgeht, was das wirklich bedeutet. Ich schaue auf meinen GPS-Empfänger: Da, wo ich bin, ist nichts anderes. Weit und breit. Nix. Nada. Was ist denn da los? Ich entdecke drei Männer, die an einer Wiese mit Modellflugzeugen hantieren. Einer setzt gerade eine Flasche Wasser an den Hals. Ich frage ihn, ob er a) vielleicht ein paar Tropfen für mich übrig hat und b) weiÃ, wo Beyenburg ist. »Keine Sorge, ist nicht weit«, sagt er, und weist auf einen imaginären Punkt am Horizont, so fern wie der Abendstern. Tatsächlich: Ich bin noch auf dem richtigen Weg ⦠Allerdings habe ich in den letzten anderthalb Stunden versehentlich etwa fünf Kilometer meiner morgigen Etappe abgespult! Ich bin an Beyenburg vorbeigelaufen! Blöder gedankenfreier Zustand! Der Ort
mit dem lauschigen See war mein Tagesziel! In der grauen Kirche darüber hätte ich meinen Stempel bekommen! Und jetzt? Ich setze mich hin und denke nach. Morgen wäre Wermelskirchen dran gewesen. Auf dem Weg dahin liegt
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