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Santiago liegt gleich um die Ecke

Santiago liegt gleich um die Ecke

Titel: Santiago liegt gleich um die Ecke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Albus
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finden sich überall Mauern aus dicken Natursteinen, mit denen die Winzer damals ihren Berg terrassiert hatten. Malerisch, aber im Vergleich zu den Felsen gestern wie Legoland gegen Paris. Trotzdem ein Foto wert. »Ist doch viel einfacher«, sagt eine der beiden Frauen, eine freundliche Endfünfzigerin mit runder Brille, die ihre Haare ein bisschen wie einen Helm trägt. Ihre Begleiterin ist augenscheinlich im selben Alter, wirkt aber, als könne sie mit dem kleinen Finger einem Löwen den Schädel zertrümmern. Sie stellen sich als Bärbel und Inge vor – und tragen jeweils eine kleine Muschel an ihrem Rucksack. Kolleginnen
! In freier Wildbahn! Der übliche Jakobs-Talk folgt umgehend: Bärbel und Inge kommen aus Villingen bzw. Schwetzingen und sind von da aus schon mal bis Saint-Jean-Pied-de-Port gekommen. Sie hatten sich die Reise in handliche Etappen von jeweils zwei bis zweieinhalb Wochen zerlegt, die sie meistens im Frühsommer abarbeiteten. Als sie 2007 endlich da ankamen, wo die meisten erst losgehen, sahen sie plötzlich die Heerscharen von Pilgern, die sich für den Weg über die Pyrenäen rüsteten – und hatten auf der Stelle keinen Bock mehr weiterzugehen. Jetzt schauen sie sich nach und nach halt ein paar andere Abschnitte des Wegs an. Heute kommen sie aus Bollendorf – damit haben sie einen schweren Sack Kilometer mehr auf dem Buckel als ich. Woah: Dafür sehen sie erstaunlich frisch aus! Wir entscheiden, ein Stück des Wegs zusammen zu wandern.

    Schon in Minden, gerade mal einen Kilometer weiter, machen wir allerdings erst einmal Pause. Bärbel hat herausgefunden, dass danach eine ganze Weile nichts mehr kommt – tatsächlich sieht ihre Karte aus, als hätte ihr Zeichner über etliche Kilometer keine Lust mehr auf Siedlungen und ähnliche Details gehabt. Mir kommt das sehr gelegen – ich habe Zeit und bin soo neugierig! Wie es sich für einen Deutschen gehört, lasse ich mir zum Kennenlernen erstmal
die Pilgerpässe der beiden Damen zeigen. Als sie sie auf die Plastiktischdecke legen, werde ich auf der Stelle lindgrün vor Neid: Ihre Pappen sind randvoll mit Stempeln, einer interessanter als der andere! Allerdings ist die Reihe, wie ich mit einer etwas peinlichen Genugtuung sehe, hier und da auch mit Fremdbelegen durchbrochen: Ich sehe einen Restaurant- und einen Hotelstempel und sogar zwei handschriftlich eingetragene Adressen. In Frankreich ist es also auch nicht viel anders als hier! Obwohl sie nicht bis Santiago gekommen sind, haben Bärbel und Inge viel zu erzählen: Von schlimmer Hitze in Frankreich und Wasserfassen auf einem Friedhof, von einer gruseligen Übernachtung in einer alten Scheune und einem Geist direkt vor Inges Nase, nachts in einer alten Scheune. Von einem vergessenen Schlüssel – dem einzigen, den ihre Gastgeber hatten. Und immer wieder von Menschen, denen sie begegnet sind, und von Leuten, die den Weg immer wieder auf und ab wandern, um für andere da zu sein.
    Als wir Minden verlassen, überqueren wir ein weiteres kleines Flüsschen, an dessen Ufer es sich zwei Frauen bequem gemacht haben. Neben ihnen liegen zwei Rucksäcke – auch mit Jakobsmuscheln drauf! Wir winken einander zu. Schade – die hätte ich auch noch gerne kennengelernt! Egal: Die folgenden Kilometer machen richtig Spaß: Es geht über eine Art Hochplateau, es gibt kaum Steigungen, die Aussicht ist Bildband-tauglich: Einige der Ansichten könnte man als 10.000-Teile-Puzzle verkaufen – und würde auf jedem Stück immer noch Details erkennen, aus denen man ein weiteres machen könnte. Die Wiesen sind grün wie die Tiefsee, auf manchen steht Löwenzahn bis zum Horizont; der Raps, der sich in den Tagen zuvor noch nicht so richtig getraut hat, steht inzwischen in voller Blüte, die Luft ist bis zum Auswringen
voll von dem Duft. Irgendwann passieren wir ein Schild, das uns eine »Schwierige Wegstrecke« ankündigt, auf die wir dann allerdings vergeblich warten – vielleicht sind wir inzwischen einfach zu gut zu Fuß. Seitdem ich die Sauer überquert habe, folgt unser Weg laut Reiseführer übrigens einer alten Römerstraße. O. K.: Als römischer Straßenplaner hätte ich mir wahrscheinlich dieselbe Trassenführung ausgesucht: Ich bleibe ab und zu stehen, um die Aussicht zu genießen, während Bärbel und Inge weiterwandern. Irgendwann machen sie eine

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