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Santiago liegt gleich um die Ecke

Santiago liegt gleich um die Ecke

Titel: Santiago liegt gleich um die Ecke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Albus
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schon ohne Punkt und Komma zu. Zum Glück machen sie nicht den Eindruck, als würden sie deswegen gleich Ohrenstöpsel hervorholen – im Gegenteil: Sie entpuppen sich als offene, helle Frauen meines Alters, die eine aufgeweckt wie eine rheinische Motivationstrainerin, die andere groß und tiefsinnig, als hätte sie gerade erst die Tür eines Philosophieseminars hinter sich zugeschlagen. Ihre feinen, blonden Haare schauen hinter ihrem Stirnband hervor wie Küken aus einem Nest.
    Nach einer Weile stehen wir drei in einer dichten Wolke aus vielen guten Worten. Monika und Maria haben im Don Bosco-Heim übernachtet, einem Jugendhilfe-Zentrum, das von Salesianern betrieben wird – das ist nach den Jesuiten die zweitgrößte männliche Ordensgemeinschaft der katholischen Kirche. Hab’ ich noch nie von gehört … Ich ziehe meinen Pilgerführer hinaus. Aaaaarrrgh: Adresse übersehen! Das Heim liegt vor Welschbillig! Das heißt, dass wir uns a) die vermaledeite Bergetappe gestern hätten sparen können – und ich b) heute nicht in die Stadt zurückgemusst hätte, um mir meinen Stempel zu holen! Im Heim hatten sie nämlich einen. Ich Idiot! Da habe ich meine beiden Pilgerkolleginnen gestern ja schön in die Irre geführt. Ist mir das peinlich ! Fast noch schlimmer: Monika und Maria sind noch ganz voll von den guten Gesprächen, die sie in ihrer Unterkunft geführt haben. Als ich meinen Führer wegstecke, erfahre ich ihre Geschichte: Sie waren schon im richtigen Santiago. Aber irgendwie fühlte sich die Sache nach ihrer Ankunft noch nicht so richtig rund an,
also haben sie dieses Jahr kurzerhand die Etappe von Köln nach Trier drangehängt. Und sie sind offenbar nicht die einzigen mit einer Art Nachglüh-Problem: Maria berichtet von Pilgern, die wochenweise immer neue Etappen ablaufen, um nach dem Camino Francés nicht in ein tiefes Loch zu fallen. Zumindest Monika muss es in den letzten Tagen aber gelungen sein, den Sack doch noch zuzumachen: Sie strahlt eine seidene Ruhe aus, in der ich mich seltsam zu Hause fühle. Wenn sie sich umsieht, scheint sie obendrein mehr wahrzunehmen als ich. Ich dagegen komme mir vor wie ein Fünfzehnjähriger beim Quartett, wo alle anderen die guten Karten mit den dicksten, schnellsten und schwersten Autos haben und ich nach und nach alles rausrücken muss. Aber irgendwie macht mir das nichts aus. Im Gegenteil: Ich habe das seltsame Gefühl, ewig weiterquatschen zu können. Aber irgendwann muss der Pilger eben weiter. »Vielleicht sehen wir uns ja in Trier wieder«, sagt Monika. Nach hundert Metern drehe ich mich noch einmal um und sehe die beiden in eine Abzweigung einbiegen.
    Als ich in Welschbillig ankomme, finde ich nach wie vor alles geschlossen, in das man einen Schlüssel stecken kann. Am Pfarrbüro hängt ein Zettel: Heute erst ab elf ! 718 Jahre Stadtrechte, aber die Gemütlichkeit eines Dorfs … Egal: Muss ein schöner Platz zum Leben sein! Früher hätte ich mich über sowas neongrün geärgert. Jetzt setze ich mich vor die Tür und mache in aller Ruhe ein paar Einträge in mein Tagebuch. Das einzig blöde an der Sache ist, dass ich stattdessen noch ein wenig mit meinen neuen Kolleginnen hätte quatschen können! Ich staune jetzt noch, was wir uns in der kurzen Zeit alles zu sagen hatten. Warum habe ich nicht auf den doofen Stempel gepfiffen? Nachdem ich das Ding habe, rechne ich kurz nach: Noch 19 Kilometer bis Trier. Inzwischen dürften die
Pilgerschwestern drei Kilometer Vorsprung haben. Hmmm, wenn ich 20 % schneller gehe … Machbar, aber dicht an der Grenze zum Abhetzen. Muss ich nicht haben. Nicht heute. Nicht an meinem letzten Tag. Wenn ich heute Morgen nur eine Minute später aufgebrochen wäre, hätt’ ich sie eh verpasst. Trotzdem schade.
    Endlich kann ich mich von dem Gummiband ziehen lassen, das schon seit dem Frühstück an mir reißt. Trier ruft! Mein Pfad ist wieder gut gelaunt; ab und an finde ich meine Muschelsymbole nun sogar in Steine eingelassen – das ist mal ein anderes Kaliber als die Plastikfolien, die sonst überall angeklebt sind: Das hat schon ein wenig Santiago-Flair! Und die nächsten Kilometer werde ich trotz des bedeckten Himmels und Temperaturen wie in einer Frischtheke obendrein vom Duft wie verrückt blühender Rapsfelder parfümiert. Irgendwann erreiche ich eine Wegkreuzung. Aus irgendeinem

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