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Santiago liegt gleich um die Ecke

Santiago liegt gleich um die Ecke

Titel: Santiago liegt gleich um die Ecke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Albus
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und überlegt, was ich spielen soll, anstatt einfach in die Tasten zu hauen und über die Jahre Virtuose zu werden! Ich habe keine Lust mehr, mich im Kreis zu drehen!
    Es ist, als ob man aus einem Konzertsaal tritt und plötzlich wieder von Stille umarmt wird.
    Völlig groggy trete ich aus dem Wald heraus. Als der grüne Vorhang vor mir aufreißt, sehe ich gegenüber die omasofakissensanft geschwungenen, mit Wiesen und Weiden bedeckten Hügel der Südeifel. Es ist, als ob man aus einem Konzertsaal tritt, in dem eine Rockband wirklich alles aus ihren Verstärkern geholt hat – und plötzlich wieder von Stille umarmt
wird. Nächste Lektion: Unter diesen Hügeln da drüben sieht es genauso aus wie hinter mir. Der Weg hat lediglich das grüne Tuch von der Landschaft gezogen und mich einen Blick auf das Skelett der Welt werfen lassen. Und das ist kalt und tot. Die Welt lebt durch Lebendiges wie mich. Ich darf das nicht verschenken! Ich fühle, wie mich tiefe Dankbarkeit durchströmt. Und Demut.
    Der Rest ist schnell erzählt. Ich passiere eine Bank, vor der jemand das Wort »Pause« in den Boden geritzt hat. Nett gemeint. Ich bin aber viel zu erschöpft, um mich hinzusetzen. Auch an einer römischen Villa und der Burg Bollendorf ein paar Meter weiter gehe ich mehr oder weniger achtlos vorbei. Am Ufer der Sauer entere ich einen Bäcker. Ich komme mir vor, als wäre ich aus einem Krieg heimgekehrt und bestelle Cappuccino und anderes Zeug; dann entdecke ich auf dem Tresen eine Zeitung. Gleich auf der ersten Seite steht, dass in Trier gerade die »Heilig Rock-Tage« eröffnet wurden. Bis zum 3. Mai sind Zehntausende von Gläubigen in der Stadt. Das ist ja mal Timing! Ohne jeden Plan losgelaufen, ausgerechnet Ostermontag Köln erreicht – und jetzt gibt es sogar ein Festival an meinem Ziel! Nix gesetzt, alles gewonnen. Ich überquere den Grenzfluss. Das Zollhäuschen auf deutscher Seite ist längst eine Touristen-Information, das entsprechende Gebäude auf luxemburgischer Seite steht leer. Die Schranken sind hochgezogen und verrostet. Zwei Schritte. Einer. Ich bin in Luxemburg ! Ich fass’ es nicht! Ich habe soeben zu Fuß ein fremdes Land erreicht! 400 Kilometer genügen also, um einen in die Fremde zu führen! O. K.: Luxemburg ist nicht Afrika, aber immerhin – das ist doch wohl mein Wandererabitur!

    Frisch bestanden, fliege ich die Sauer entlang: Inzwischen ist es heiß geworden; trotzdem lasse ich Bollendorf hinter mir wie den flüchtigen Blick einer jungen Frau, den man in einem Supermarkt aufschnappt. Ich bin überhaupt nicht mehr müde! Nur meine Beine werden langsam etwas schwer, aber mir tut nix weh. War doch gut, die tote Haut über den Blasen in Mettendorf wegzuschneiden! Aus dem Lappen hätte ich mir Handschuhe nähen können … Egal: Ich lese die fremdartig beschrifteten Straßenschilder und komme mir vor wie Goethe auf seiner italienischen Reise. Ich bin in Luxemburg ! Woah! Drei Kilometer vor Echternach merke ich, dass ich schon wieder mit mir selbst rede – diesmal aber nicht aus Müdigkeit: Ich bin ausgeglichen wie ein Bankkonto mit einer dicken, schwarzen Null drauf.
    Mein Tagesziel kommt so schnell näher wie ein unangenehmer Termin, nur in schön. Der Fluss an meiner Seite strömt glatt und breit und schnell dahin wie Wein aus einem umgefallenen Glas; er ist zu beiden Seiten eingefasst von Wäldern, die sich gerade erst fragen, ob sie nicht langsam mal aufwachen sollten. Ich fotografiere einen grünrot schimmernden Käfer auf dem Weg – O. K., bin ja auch Großstädter –, wandere durch Wiesen, so satt wie fünf Freunde nach einem Zehn-Gänge-Menü von Tim Mälzer, und überquere einen kleinen Bach. Dann sehe ich die Echternacher St.-Willibrord-Basilika – benannt ausgerechnet nach dem Heiligen, der den Sibyllen-Menhir von vorhin
persönlich mit Hammer und Meißel umgewidmet haben soll – und schlage mich ins Stadtzentrum durch. Was für ein hübsches Örtchen! Ich komme auf einen kleinen Marktplatz. Er wird von einer Reihe alter, dezent gestrichener Gebäude eingefasst, die allesamt wirken, als ob sie gut zuhören könnten. Überall Cafés voller Menschen, die ihre Köpfe in die Sonne recken. Komisch: Eine Schrecksekunde fühle ich mich eigenartig schutzlos – und bin mir trotzdem sicher, dass mir diese Stadt nichts

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