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Santiago liegt gleich um die Ecke

Santiago liegt gleich um die Ecke

Titel: Santiago liegt gleich um die Ecke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Albus
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anhaben kann. Mir kann nichts passieren! Bis zur Jugendherberge muss ich zwar noch etliche Haken schlagen und diverse Extrakilometer einbuchen. Egal: Ich bin fast besoffen von dem Gedanken an meine neue Kraft. Der Check-In geht schnell, nur das Essen macht mir Sorgen. Nochmal drei Kilometer zurück in die Stadt? No way! Besser erstmal im Speisesaal nachfragen, was es überhaupt gibt. Als ich mich noch wundere, wie leer der Saal ist, fällt mir auf, dass alle draußen sitzen. Es wird gegrillt ! Ich frage jemanden, was das bedeutet. Eine Wette? Der Junge am Grill wird jedenfalls von einer Hand voll Mädchen gehänselt, versteckt seine kurzgeschorenen Haare unter einer Baseballkappe und legt mir zwei gigantische Nackensteaks auf den Teller; ich packe mir eine Portion Kartoffelsalat dazu, von der Hannibal seine Armeen auf dem Weg über die Alpen hätte speisen können, und bekomme an der Theke sogar ein Weißbier. Ich bin heute tatsächlich 27 Kilometer gelaufen. Und spüre nicht einen davon.
    Ich bin fast besoffen von dem Gedanken an meine neue Kraft.

Gemeinsam weiter – oder wie sich Probleme lösen, die keine sind
Sonntag, 26. April – Echternach bis Welschbillig
    Mensch, so langsam muss Petrus doch das Himmelblau ausgehen, und das im April! Trotzdem rutsche ich allmählich in eine Art Endspurt-Blues: Bald muss ich Abschied nehmen von meinem Weg. Dabei habe ich in den letzten Wochen so viele Türen hinter mir zugezogen, ohne dass es mich umgebracht hat – aber auf das ganze Projekt einen Deckel zu machen: Das ist jetzt doch was anderes! Außerdem bin ich immer noch ganz groggy von meiner gestrigen Lektion. Wenn das mal keine Pilger-Matura und AbschlussOffenbarung zugleich war … Glaube jedenfalls nicht, dass das noch zu toppen ist.
    O. K.: So ganz ist das noch nicht nach innen durchgesickert: Ich war heute Nacht einmal kurz aufgeschreckt, als auf dem Parkplatz ein paar Kids randalierten. »He, mein Auto!«, dachte ich. Dann fiel mir ein, dass alles, wirklich alles, was ich brauche, neben mir auf dem Boden liegt. Ein Gefühl wie ein ganzes Regal voller Antidepressiva. Grund zur Hoffnung, oder? Bis Welschbillig sind’s gerade mal 13 Kilometer: Zeit, sich Echternach noch in Ruhe anzusehen. Trotzdem muss ich mich ein bisschen beeilen: Pilgerstempel gibt’s nur im Tourismusbüro – und das hat heute natürlich zu . Und in der Basilika ist heute garantiert Gottesdienst. Ich muss es also irgendwie vorher dahin schaffen – und es ist schon Viertel nach neun. Ich werfe mir den Rucksack über und mich aus dem Gebäude. Als ich im Zentrum ankomme, läuten trotzdem bereits die Glocken. Keine Zeit, auf die Uhr zu sehen – nichts wie rein in die Kirche, die sich tatsächlich
bereits mit Menschen füllt! Am Stand einer Dritte-Welt-Initiative sehe ich Sekunden später einen älteren Herrn ganz in Schwarz vorbeiflitzen – er hat es ähnlich eilig wie ich. Ich muss mich zurückhalten, ihn nicht am Ärmel zu zupfen, spreche ihn aber an. Stempel? »Den bekommen Sie eigentlich im Tourismusbüro …« Der Mann denkt einen Moment nach. »Aber ich kann Ihnen unseren Gemeindestempel anbieten.« Tatsächlich ein Geistlicher! Nur dass er es jetzt noch eiliger hat als vorher. Er führt mich das Seitenschiff der Basilika entlang, wo mir sofort ein grauenhaft verunstalteter Jesus-Torso auffällt, der aussieht, als hätte man den Heiland in Sarajewo aus einem Minenfeld gezogen und dabei mittendrin durchgebrochen. Ich bin sehr ergriffen. Er sieht so … zerstört aus. So … tot. Mein Gott – einen derart leidenden Jesus habe ich noch nicht gesehen!
    Weiter geht es durch hohe, schwere Türen, immer tiefer in die Kirche; irgendwo blafft der Pfarrer einen Touristen an: Der Arme hat sich in einen Raum verirrt, der eigentlich abgeschlossen sein sollte. Ich komme mir sehr privilegiert vor. In der Sakristei, einem großen, hohen Raum, der mich ein wenig an den Maschinenraum der Nostromo erinnert (dem düsteren Raumschiff aus Alien I), stehen bereits Leute um einen riesigen, tischhohen Schrank aus dunklem Holz voller Schubladen; sie wirken wie Mitglieder eines Geheimordens vor der Wahl ihres neuen Meisters. Der Pfarrer zieht, ohne lange zu suchen, eines von den 10.000 Schubfächern auf und zaubert einen Stempel hervor. Ich habe das seltsame Gefühl, dass dieses Möbel alle Geheimnisse der Welt bewahrt. Ob da

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