Santiago liegt gleich um die Ecke
und her, den Typen mit den Werkzeugen ist das allerdings völlig egal. Mich stört der Krach auch nicht sonderlich. In mir ist genug Ruhe für die ganze Stadt. Die Gitarrenklänge erzeugt ein Typ mit Scorpions-Ledermütze, der die Stufen vor einer Art Siegessäule auf der Mitte des Marktplatzes zu seiner Bühne gemacht hat. Einem plötzlichen Impuls folgend gehe ich zu ihm herüber. Von Nahem sieht er schrecklich aus: Er hat eine rote, verschorfte Nase und einen leicht pharmakologischen Blick. Ich quatsche ihn an. Sofort beginnt er zu reden, als hätte ich ihn eben eingeschaltet. Dann klampft er wieder eine Weile auf seiner Gitarre herum. Plötzlich hält er inne und sieht mich an. »Ich habâ da was geschrieben, willsse mal hörân?« Nimmt einen tiefen Schluck aus einer Flasche, die er mit einer eleganten Bewegung aus der Innentasche seiner Jacke zaubert. Bietet mir einen Schluck an. Und fängt an zu spielen. Mit geschlossenen Augen. Es klingt überirdisch schön. He, hat Santana einen Sohn? Ich
höre mir sein Stück bis zum Ende an. Als ich glaube, jetzt wiederholt er sich aber, wirft er mir noch eben eine tonale Wendung um die Ohren, für die selbst Eric Clapton in seinen besten Jahren seine Gitarre verpfändet hätte. Als er fertig ist, lege ich ihm den Arm auf die Schulter. »Das ist toll, Mann. Haste mal an einen Text gedacht?« »Neee. Kein Text. Brauchâ ich nicht. Höchstens ne zweite Gitarrenstimme, damit man das ein bisschen jazzmäÃig aufbauen kann.«
Ich gehe zurück an unseren Tisch. Wir bestellen noch mehr Wein. Reden über den Gitarrenmann und gute Musik und wie bekloppt es ist, dass solche Leute keine Chance bekommen. Ich wünsche mir, dass dieser Tag älter wird als Johannes Heesters. Ich bin immer noch nicht traurig. Eher euphorisch. Aber langsam auch ein klein wenig betrunken. Den beiden anderen scheint es ähnlich zu gehen; irgendwie werden wir alle ruhiger, als wären uns mit der Zeit alle brauchbaren Worte davongelaufen. Allmählich werden wir von einer sanften Stille eingelullt, die uns umgibt wie eine Umarmung des Dalai Lama höchstpersönlich. Irgendwann fängt es an zu regnen. Der Gitarrenmann flüchtet sich mit einem zweiten Guitarero unter einen Dachvorsprung. Die beiden scheinen irgendwas zu diskutieren, dann schrammeln sie gemeinsam los. Ich hoffe, dass mein Kumpel heute Abend seine zweite Stimme gefunden hat. Apropos: Bärbel und Inge habe ich die ganze Zeit nicht zu Gesicht bekommen. Kurz habe ich die Vision, dass sie ihre Schlafsäcke gerade völlig entnervt unter der A64 ausrollen. Schade, ich hätte sie heute Abend auch gerne um mich gehabt. Gegen halb zwölf brechen wir auf. Jetzt redet keiner mehr.
Die fehlende Antwort und das missing link
Dienstag, 28. April â Trier
Mein Kopf fühlt sich an, als hätte ein ganzer Hirnchirurgen-Kongress drin herumgewühlt. Mit Grillbesteck. Ohne Handschuhe. Aber Moment ⦠da war was ⦠Ach ja: Monika und Maria wollten um acht frühstücken! Aber Moment ⦠da war doch noch was ⦠Stimmt: Ich hatte mir vorgenommen, in meinem Zimmer zu bleiben, bis sie weg sind. SchlieÃlich haben wir uns gestern schon verabschiedet. Und nach geschätzten zwei Millionen Worten, die wir einander überreicht haben, gibt es schlicht nichts mehr zu sagen. Oder? Andererseits: »Man soll nicht stehen bleiben, wenn man den Gipfel erreicht hat. Abwärts gehen gehört auch dazu.« Ich raffe mich auf und schleppe mich unter die Dusche.
Monika und Maria blättern in einer DIN-A4-Kladde voller handschriftlicher Einträge. Es ist fast neun. Sie haben auf mich gewartet ⦠Ich setze mich zu Monika und schiebe die kleine Blumenvase auf dem Tisch zur Seite, damit wir uns besser sehen können. Gott, vor Wochen hätte mich das mehr angestrengt, als den Deckstein von einem Hünengrab zu heben â jetzt fällt mir die Geste so leicht wie in einem Sommerregen zu stehen und die Arme auszustrecken. Monika lächelt mich an und schiebt mir das Gästebuch rüber. Gemeinsam sehen wir uns die Kladde an. Die beiden haben das Ding in der Pforte in die Hand gedrückt bekommen. Es scheint exklusiv Pilgern vorbehalten zu sein: Ich lese Widmungen wie »Auf unserem Pilgerweg von Klausen nach Metz fanden wir freundliche
Unterkunft hier an diesem Ort der Ruhe« oder »Auf meinem Weg von Mecklenburg nach Santiago bin
Weitere Kostenlose Bücher