Santiago liegt gleich um die Ecke
dem Weg dorthin vertritt mir jedoch eine resolute Dame den Weg, etwa so groà wie mein Rucksack. Sie fragt mich irgendwas, was ich nicht recht verstehe, aber es scheint darauf hinauszulaufen, dass ich hier nicht hinein darf. Halloo? Sieht die denn nicht, dass ich Pilger bin? Habe ich mir mit 430 meinem Körper unter Schmerzen abgerungenen Kilometern nicht wenigstens das kleine, billige Anrecht erlaufen, mir an meinem Ziel einen Gottesdienst anzusehen?
Aus den Augenwinkeln sehe ich plötzlich Monika und Maria. Sie schlängeln sich an mir und der Dame vorbei â mit einer Selbstverständlichkeit, als hätten sie vorne ein paar Kerzen auszuwechseln. Sie hält eigenartigerweise keiner auf. Kurzentschlossen trotte ich hinter ihnen her. Diesmal funktioniert es â wir setzen uns in die letzte Reihe.
Vorne schwenken Leute Weihrauchfässchen. Dann singen alle. Aber ich bin immer noch nicht recht in dieser Welt. Irgendwann fällt mir auf, dass ich meinen Rucksack noch auf dem Rücken habe! Und die Bank ist schmal wie ein Bücherregal. Ich passe einen Moment ab, an dem wieder alle singen, winde mich aus den Gurten, setze das Ding so leise es geht, aber wahrscheinlich so geräuschvoll, als würde ich einen Sack mit Pflastersteinen ausschütten, auf den freien Platz neben mir und schalte, wo ich schon mal dabei bin, auch schnell mein Handy aus. Dann lehne ich mich zurück und spüre, wie mich eine tiefe Gelassenheit ausfüllt, so als ob jemand dicke schwarze Tinte in ein Aquarium gieÃt. Mit einem gewissen Rest-Erstaunen nehme ich noch wahr, dass ich diesmal nicht einmal ansatzweise feuchte Augen kriege. Irgendetwas hat sich seit Köln verändert. Neben mir sitzt Monika, aber sie schaut die ganze Zeit geradeaus.
Ich habe das Gefühl, sie möchte jetzt nicht angesehen werden, also lasse ich es.
Auf dem Weg zum Ausgang werde ich wieder von einem Ex-Santiago-Pilger angesprochen. Er fragt mich, wie lange ich noch unterwegs sein werde. Die Frage verwirrt mich. Wieso muss ich eigentlich nach Santiago ? Ich bin doch schon da! Was soll ich da unten?
Das Josefsstift ist tatsächlich ein Kloster. Sogar noch in Betrieb. Der Zugang zum Gelände führt durch eine winzige Tür aus dunklem Holz, die in eine dicke Mauer aus rotem Sandstein eingelassen ist und jeden Edgar Wallace-Krimi adeln würde. Hier käme nicht mal Richard Dawkins durch! Drinnen erinnert allerdings wenig an ein weltfernes, heiliges Bauwerk â keine Nonnen im Ornat, kein Kreuzgang, keine gregorianischen Gesänge aus den Flügeln. Stattdessen eine Pforte, die per Drag & Drop aus einem kleinen Provinzkrankenhaus hierhin kopiert worden sein könnte. Die Anmeldung wird an diesem Abend von einem zierlichen jungen Mädchen verwaltet, das wirkt, als hätte man es eben erst in der Raucherecke eines Gymnasiums eingesammelt. Beim Aufzug gibt es irgendwas zu beachten, sagt sie, aber das vergesse ich schon, bevor ich zu Ende zugehört habe. Noch während wir damit hochfahren, nehme ich mir nämlich vor, nur noch die Treppe zu benutzen: Die Kabine ist unerträglich eng, mir bleibt fast die Luft weg. Mein Zimmer liegt am Ende eines Flurs in einer der oberen Etagen. Es riecht etwas muffig, nach 50er-Jahren, staubigem Teppichboden und häufig gewischtem Vinyl. Das einzige gröÃere Mobiliar in meiner Zelle für die kommende Nacht sind ein Schreibtisch und ein sauberes, wolkenbequemes Bett. Darüber hängt ein Kruzifix. Ich fühle mich beobachtet und will es heimlich abhängen, lasse es dann aber bleiben â der
Mann ist schlieÃlich hier zu Hause! Die Dusche ist auf dem Flur direkt gegenüber â so gesehen habe ich sogar das beste Zimmer auf der ganzen Etage! Und wenn ich aus dem Fenster blicke, sehe ich fast nur Bäume. Kaum zu glauben, dass ein paar Meter weiter, hinter der Panzermauer, die Trierer Innenstadt tobt.
Um acht treffe ich Monika und Maria wieder. Wir schlendern, als hätten wir die Tour de France gewonnen. In einem Nudel-Fastfood bestellen wir drei zufällig dasselbe, machen Fotos voneinander, vertagen uns in ein Weinlokal ein paar Meter weiter und reden, reden, reden, reden, reden, mit Riesengläsern vor uns. Dabei werden wir irgendwann von Bohrmaschinen und Gitarrenmusik begleitet. Der Baulärm stammt von einer Filiale einer Teenie-Modenkette nebenan; die Geschäftsführerin vom Typ GZSZ-Biest läuft mit einem Handy in der Hand elektrisch hin
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