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Santiago liegt gleich um die Ecke

Santiago liegt gleich um die Ecke

Titel: Santiago liegt gleich um die Ecke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Albus
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ganzen Welt ausgelegt wird und fühle mich wie der Klang einer Glocke, der den Horizont unter sich sieht. Noch nie im Leben habe ich so tief und so langsam geatmet. Noch nie so viel Vertrauen in meinen Atem gehabt. In alles. In mich. In einem Tabernakel ganz in der Nähe finde ich die Skulptur eines Heiligen, dem es ähnlich geht wie mir: Er führt einen verrückten Tanz auf – was aber wahrscheinlich nur daran liegt, dass es der Künstler mit der Herausarbeitung des Faltenwurfs seines Gewands etwas übertrieben und irgendjemand dem Kunstwerk ein wichtiges Teil gestohlen hat. Vielleicht ein Schwert oder ein Speer, irgendetwas, das der ekstatischen
Bewegung der Figur ihren Sinn gegeben hat.
    Meine Unterkunft ist ganz in der Nähe, aber irgendwie kann ich die Last, die ich über drei Wochen mit mir herumgetragen habe, unmöglich jetzt schon abwerfen. Ich möchte das Ding bis zum Ende tragen. Also machen wir drei uns zusammen auf in Richtung Dom. Als wir den Marktplatz erreichen, läuten die Glocken. Mann, das ist heute wirklich die volle Packung! Mit jedem Glockenschlag knallen in mir zwanzig Sektkorken: Ich fühle mich plötzlich belohnt für all die verdammten Kilometer, für die Scheißblasen, die ich mir gelaufen habe und von denen ich mich trotzdem nicht habe aus der Bahn werfen lassen, für meinen Zusammenbruch in Altenberg, für die kalten Nächte im Zelt, für das Purgatorium vor Köln, für all die schlechten Menschen, denen ich unterwegs standhalten musste – obwohl es sehr, sehr wenig waren –, für all die Kilometer, die nicht eingeplant waren und die ich laufen musste, weil irgendwas schiefgegangen war, für das schmierige Bett in Köln, für die 10.000 verschwundenen Wegweiser und den Wolkenbruch vor Bad Münstereifel, für die Abgasrallye heute und so vieles mehr, was mir in den letzten Tagen Schmerzen und Kummer bereitet hatte.
    Zugleich fühle ich, dass dieser Augenblick mit den Glocken und den wahnwitzig wenigen Meter bis zum Dom in einer Reihe steht mit so vielen Glücksmomenten, durch die ich auf meiner Reise gestolpert bin. Ich sehe das Gesicht von Ines Berger, die mir ihr Hotel umsonst überlassen hatte, ich sehe die Blindschleiche, die hinter Wermelskirchen über meinen Weg huscht, Sonnenflecken auf den Hügeln der Eifel, irgendwie auch das verpasste Beyenburg im Spiegel des Stausees davor, ich erinnere mich an die Kellnerin in Kronenburg mit ihren Croissants, an Werner,
seinen Kaffee und dass er seine Frau vermisst, an die zum Hinknien leckeren Printen in Heino-City, an das Gefühl, in Altenberg mit den Flügeln geschlagen zu haben, die vielen atemberaubenden Aussichten unterwegs, all die Gedanken, die mich aus heiterem Himmel hingestreckt haben, das Gefühl, nach einem beschissenen Regentag endlich einen netten Menschen und ein trockenes, warmes Bett zu finden, an meinen Rocker-Gastgeber in Weilerswist, das unglaubliche Glück, anzukommen , das nur die ungefähr 500.000 Schritte auslösen können, die ich auf dem Weg zurückgelegt habe. An das Nickerchen auf einem sonnenwarmem Baumstamm, den Geruch dieser frisch gefällten Buche – überhaupt, meine Buchenkrone, die längst verwelkt auf irgendeinem Waldweg liegt. An das Gefühl, Luxemburg erreicht zu haben – zu Fuß! Den seltsamen Stolz, den ich auf der Hälfte des Weges bemerkte, als mir klar wurde, dass ich vor nichts Angst habe, obwohl ich unmittelbar vor meiner Abreise am liebsten gleich wieder ins Bett gegangen wäre.
    Mein Gott, ich bin so dankbar! Und ganz zum Schluss klopft da noch ein weiterer, kleiner, zaghafter Gedanke an: »He, du wolltest doch diese letzte Etappe alleine gehen, damit du einen Strich unter die ganze Sache ziehen und alles noch einmal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen kannst. Jetzt hast du den ganzen Tag mit zwei wildfremden Menschen gequatscht. Wo ist jetzt deine Bilanz, bitteschön?« Was für ein Blödsinn! Besser, tiefgründiger und präziser als im Gespräch mit diesen beiden Frauen hätte ich meine Bilanz gar nicht ziehen können. Wenn es sowas wie Glück gibt auf der Erde: In Trier hatte ich es. In diesem Moment.
    Wir betreten den Dom. Eine Messe! Allerdings ist schon wenige Schritte hinter dem Portal Endstation
für mich – alles ist von Touristen und Schaulustigen zugestellt. Auf den Bänken in der Gläubigenklasse sind allerdings noch Plätze frei. Auf

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