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Santiago liegt gleich um die Ecke

Santiago liegt gleich um die Ecke

Titel: Santiago liegt gleich um die Ecke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Albus
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Maria sind zum Glück ähnlicher Ansicht. Im Gänsemarsch tasten wir uns diese Autoabgas-Kloake entlang; Maria stapft vor, ich mache das Schlusslicht, einen Handbreit neben uns fegen die Autos vorbei. Wenn ich hier durch bin, kann ich meine Lunge einem Chemiekonzern zur Metallgewinnung verkaufen. Egal – wirklich blöd ist nur, dass ich nicht mehr mit Monika reden kann. Bei den wenigen Gelegenheiten, die wir uns doch irgendwie nebeneinander quetschen, erfahre ich immerhin, dass die beiden in der Neuerburg im selben Zimmer übernachtet haben wie ich. Sie waren sogar beim selben Chinesen! Und die Zettel in ihren Glückskeksen waren genauso wahr wie meiner.
    Und jetzt? Komisch – müsste jetzt nicht irgendwas passieren? Da vorne liegt Trier. Um da hin zu kommen, war ich über drei Wochen unterwegs. Bin über Berge gestiegen. Habe Flüsse überquert. Ich versuche, irgendwie traurig zu werden. Oder wenigstens euphorisch . Aber es kommt nichts. Seltsam: Gestern hatte ich noch dieses seltsame Gefühl, das man hat, wenn man sich dem Bett eines Sterbenden nähert. Irgendwann heute muss ich dran vorbeigelaufen sein.
    Dann ist es soweit: Wir gehen über die Moselbrücke! Ein brüllend unauffälliges Ding aus grauem Stein. Plötzlich renne ich vor eine Wand. Mir fällt ein, dass ich vor ein paar Wochen schon einmal hier war –
allerdings virtuell, mit der Maus auf der Landkarte. Vor vier Wochen hatte ich die letzten noch fehlenden Etappen des Wegs in den GPS-Empfänger geklickt. War gewissermaßen auf dem Bildschirm durch Wälder gegangen, habe an gepixelten Steigungen geschwitzt und in den Straßen Triers digital Luftnot bekommen. Als ich die Kartengeschichte fertig hatte, hatte ich mich mit einem meiner Pilgerführer aufs Sofa gelegt. Und war eingeschlafen. Und hatte einen seltsamen Traum: Fünfmal hatte ich im Schlaf das Gefühl aufzuwachen. Aber ich konnte mich nicht bewegen, weil ich so schwer war wie eine ganze Wagenladung Hinkelsteine. Nicht einmal die Augen konnte ich öffnen. Irgendwann hatte ich es unter Aufbietung aller Energiereserven geschafft, aufzustehen, aber selbst dann fehlte mir die Kraft, um mich zu blicken. Ich war wie ein Eimer Wasser tief im Atlantik. Als ich endlich wirklich wach wurde, waren zwei Stunden vergangen. Ich fühlte mich schwer wie ein Sack Rheinkiesel und war sogar zu schwach, mir einen Kaffee zu kochen. Irgendwie hatte ich das alles völlig vergessen. Nicht mal in Altenberg war es mir eingefallen.
    Der trübe Himmel ist im Laufe des Tages aufgerissen und hat einem tiefen Blau Platz gemacht, das ganz sanft und ruhig mit gelassenen Pinselstrichen auf eine Leinwand über uns aquarelliert ist. Und ja: Die Sonne scheint auch. Trier putzt sich für uns heraus wie seinerzeit Köln für mich. Etwas benommen betrachte ich die Mosel. Sie liegt da, als wäre sie schon immer da gewesen und irgendjemand hätte sich den ganzen grünen Rest Drumherum erst später ausgedacht. Dann folgen wir unserem Weg weiter. Baumbestandene Straßen, wunderschöne Villen, eine alte Stadtmauer. Und plötzlich stehen wir vor der Porta Nigra .
Hier passiert es. Endlich. Endlich erlebe ich das, wofür ich mir die ganze Mühe gemacht habe. Aus heiterem Himmel platzt mein Herz, wie eine Mohnblüte, einfach so, als erzählte mir jemand, der zufällig an einer roten Ampel neben mir steht, dass ich heute geboren werden soll. Ich bin endlich da! Vor drei Wochen habe ich die Haustür hinter mir ins Schloss gezogen. Um hier anzukommen! Fast hätte ich aufgegeben! Und jetzt bin ich da! Ich umklammere meinen Wanderstab wie einen Infusionsständer. Und merke plötzlich, welche Kraft in mir steckt! In mir stecken muss, dass ich diese verdammte Strecke geschafft habe. Über 20 Kilometer am Tag. Über drei Wochen. Ich fühle mich, als hätte jemand in mir einen Eimer voller Glück umgeworfen. Auf einmal weichen mir über 400 Kilometer Plackerei aus den Knochen. Ich stehe auf Knien aus Weingummi. Mein Rucksack drückt mich in den Boden. Aber ich bin da. Ich habe es geschafft. Ich bin da! ICH BIN DA!!!
    Noch nie im Leben habe ich so tief und so langsam geatmet. Noch nie so viel Vertrauen in meinen Atem gehabt. In alles. In mich.
    Monika und Maria laufen in einer Art gemütlichen Stadtbummel-Tempos durch das Tor, ich dagegen lasse mir viel Zeit. Dies ist mein Triumphzug ! Ich bin wie tiefgrüner Rasen, der auf der

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