Santiago liegt gleich um die Ecke
Erschaffung des Lichts. Mit den Fingerspitzen soll ich dort versuchen, Moosgummi und Sandpapier zu unterscheiden, was ich in etwa so gut schaffe wie verschiedene Biersorten am Geschmack zu erkennen; dann bekomme ich eine kurze Einführung in Blindenschrift und darf anschlieÃend Früchte an Hand ihrer Form und ihres Geruchs erraten, was mir bei einer Banane gut, beim Rest mit eher mäÃigem Erfolg gelingt. AnschlieÃend darf ich mir eine Cola eingieÃen und ein zum Glück staubtrockenes Stück Kuchen von der Gabel auf den dicken Teppich zu meinen FüÃen rieseln lassen, der wahrscheinlich gar keiner ist, wie mir plötzlich aufgeht. Zum Glück sieht es keiner. Nachdem Inge mich wieder rausbegleitet hat, komme ich mir vor wie Nosferatu: Boah, ist das drauÃen hell! So muss das sein, wenn man zur Welt kommt, schieÃt es mir durch den Kopf! Schon komisch, dass dieses Café ausgerechnet am Ende meines Wegs auf mich gewartet hat.
AnschlieÃend besuche ich noch das Karl-Marx-Museum â schlieÃlich bin ich wegen einer Wirtschaftskrise hier â und reihe mich am Bahnhof doch noch
willig in eine Schlange ein, um eine Rückfahrkarte zu ergattern. Dann kann ich mich nicht mehr drücken.
»Sie meinen die Blandinen-Kapelle, ja?« Ich nicke, ich finde, dass das plausibel klingt. Die Frau in der Dom-Info zaubert einen Stadtplan hervor: Die Kapelle ist auf einem Friedhof ganz in der Nähe und nicht schwer zu finden. Auf dem Weg dahin komme ich an einer StraÃe vorbei, die »Sieh um Dich« heiÃt. Direkt unter dem StraÃenschild ist eine Tafel, auf der »Rettungsweg« steht. Die Kirche, hinter der meine Kapelle sein soll, ist schon von Weitem zu sehen. Das Bauwerk selbst ist ein relativ schmuckloser kleiner Bau aus gelbem und rotem Sandstein mit einem schönen Atrium davor. Ich stecke meinen Kopf hinein â ein Innenhof, der an allen vier Seiten überdacht ist; der Umgang wird von einfachen Säulen aus einem porösen grauen Stein getragen. Das alles erinnert mich in seiner Schlichtheit an einen Zen-Tempel; Schmuck gibt es nicht â mit Ausnahme einer Art Grabkreuz gegenüber dem Einganz zur Kapelle. Auch dies allerdings keineswegs vergoldet oder so, sondern so einfach gehalten wie eines der tausend Wegkreuze, an denen ich unterwegs vorbeigekommen bin â allerdings brandet hier ein kleines Blumenmeer an das Objekt. Auf der Rückseite des Gebäudes stoÃe ich auf eine Wand voller Dankes-Täfelchen aus Marmor, Granit und ab und an auch
aus Holz. »Schwester Blandine Danke« steht da drauf oder »Blandine hat geholfen«; »Wij Danken U Voor Uw Bescherming En Geluck« â soweit ich das sehen kann, der einzige fremdsprachliche Eintrag. Auf vielen Tafeln steht einfach nur »Danke«. In eine Platte ist ein Kinderwagen graviert â aus den anderen geht nicht hervor, wofür ihre Stifter denn nun so dankbar sind. Aber dadurch, so wird mir schnell klar, wirkt das alles nur noch würdevoller â hier posaunt niemand heraus, dass der verdammte Krebs weg oder der Sohn gesund von einer Reise zurückgekommen oder das ersehnte Kind endlich da ist. Das hier ist das genaue Gegenteil dessen, was man im Fernsehen jeden Tag um die Ohren gehauen bekommt! Ich begreife, dass hinter jedem dieser Täfelchen ein Schicksal steht. Mein Gott â so viele dankbare Menschen! Habe ich ein Problem mit Gott? Meinetwegen â aber hier, in diesem Moment, ist mir das plötzlich völlig egal. Nicht mal auf ihren Namen haben die Leute Wert gelegt : Keine der Tafeln ist unterschrieben. Ich bleibe lange stehen. Irgendetwas passiert hier mit mir. Ich werde ein wenig nervös.
Als ich die Kapelle betrete, platze ich mitten in einen Gottesdienst. Zu allem Unglück war die Tür so laut wie eine Kanalschleuse â und ich komme mir schlagartig vor wie Peter Sellers auf einer Cocktailparty. Insgesamt sind vielleicht ein Dutzend Menschen in dem kleinen Saal, einige drehen sich zu mir um. Was führt die an so einen speziellen Ort? An einem hundsnormalen Dienstag â gewöhnliche Leute arbeiten gerade, oder? Egal â jetzt kann ich unmöglich gehen. Zu den anderen setzen möchte ich mich trotzdem nicht â also stelle ich mich hinter die letzte Bank. Im Rücken des Pfarrers entdecke ich eine Art Schrein. Ob da Blandines Ãberreste drin sind? Nach einer Weile bittet der Mann die Anwesenden um ein
Zeichen des Friedens .
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