Santiago liegt gleich um die Ecke
ich hier herzlich aufgenommen worden« oder »Hier habe ich die Einkehr gefunden, die zu suchen ich losgegangen war«. Mir wird warm ums Herz. Und wo die Kollegen alle herkommen! Manche haben eine kleine Jakobsmuschel unter ihren Eintrag gemalt. Am besten gefallen mir jedoch die Widmungen, unter die die Verfasser ein Foto geklebt haben. Eine Pilgerin vor der Kathedrale in Santiago, ein anderer neben dem Ortsschild â beide erschöpft, aber auf schwer zu beschreibende Weise »angekommen«. Als ich all diese Einträge sehe, habe ich wieder das Gefühl, Teil einer groÃen, weisen, uralten Familie zu sein. Und das hier sind alles Verwandte! Leute, denen ich jederzeit meine Autoschlüssel in die Hand drücken könnte. Oder meinen Wanderstab. Oder den Faden, an dem ich hänge. Die Buchstaben, mit denen Monika sich verewigt, sehen aus, als würden sie gleich tanzen gehen. Wir reden noch ein wenig, aber die Stimmung ist gedrückt. Irgendwann umarmen wir drei uns noch einmal kurz, dann wird mir plötzlich klar, dass ich die beiden nie wieder sehen werde. Dieser Gedanke ist, als ob mir mitten im Satz der Füller abbricht â¦
Später frage ich mich, warum ich sie nicht zum Bahnhof begleitet habe. Hatte ja nichts anderes vor. Ich Idiot! Egal: Jetzt bin ich immerhin froh, dass ich beide noch einmal gesehen habe. Mich in meinem Zimmer einzuschlieÃen, bis alles vorbei ist â das wäre mein altes Ich gewesen. Und den richtigen Moment zum Loslassen zu finden, ist bekanntlich das Schwierigste überhaupt.
DrauÃen schüttet es, als ob jemand Blade Runner noch einmal drehen möchte. In mir regnet es auch. Ich finde ein Fotogeschäft und bin nach weniger als zehn Minuten mit ein paar Abzügen meiner schönsten
Fotos für das Gästebuch wieder drauÃen. Der Dom explodiert heute fast vor Menschen â überall sind Sub-Teens, die von Betreuerinnen mit bunten Anoraks und farbigen Brillen im Zaum gehalten werden und vor kleinen Digicams »A-mei-sen-schei-Ãe« brüllen müssen.
Tatsächlich ist die Kathedrale ein einziger Ameisenhaufen! Die weihevolle Stimmung, die mich gestern noch an meine Bank genagelt hatte, hat sich verflüchtigt wie Morgentau in der Sahara. Ein Ordner erklärt mir, dass heute Kinder aus den katholischen Kindergärten des ganzen Bistums hier sind, um sich den »Heiligen Rock« anzusehen. Sowas! Ich hatte gedacht, das »Heilig-Rock-Festival« wäre eine Art christliches Open-Air-Konzert! Aber der heilige Rock hat nichts mit Barclay James Harvest, U2 oder meinetwegen Xavier Naidoo zu tun â tatsächlich soll es sich dabei um Teile der Tunika Jesu handeln. Immerhin: Besser als Sandalen. AuÃerdem werde ich offenbar Zeuge eines sehr seltenen Geschehens â zuletzt wurde der Mantel der Ãffentlichkeit 2005 gezeigt.
Den richtigen Moment zum Loslassen zu finden, ist bekanntlich das Schwierigste überhaupt.
Leider haben die Heilig-Rock-Tage mit einem Rockkonzert am Ende dann doch noch eines gemeinsam: Die Schlange vor der Kasse bzw. der Bühne. Als mir aufgeht, dass ich mindestens zwei Stunden anstehen müsste, um mich schlieÃlich an ein paar heiligen Stoffstückchen vorbeischieben zu dürfen, ziehe ich die Notbremse. Schlendere lediglich ein wenig durch den Dom und bewundere ein paar Dinge aus der Nähe, die aus dem Meer der lärmenden Köpfe um mich herum aufragen und mir gestern kaum aufgefallen waren: unglaublich verschraubte Altäre, Skulpturen, von denen ich nicht einmal einen Zeh halbwegs realistisch hinbekommen würde, eine Orgel, verziert wie eine Hochzeitstorte â irgendwie
erscheint mir der Trierer Dom viel offener und heller als der in Köln. Ich fühle mich hier auf Anhieb wohl: Irgendwie hat man in der Kölner Kathedrale das Gefühl, sich auf der Stelle hinknien zu müssen, während man hier das Herz in die Luft werfen möchte â und weiÃ, dass man es nie wieder auffangen muss.
AnschlieÃend schaue ich im Informationszentrum vorbei, um mir meinen Stempel abzuholen. Dabei fällt mir ein Zelt auf, auf das ich gestern schon neugierig geworden war. Daran ist ein Plakat, das neben dem Schriftzug »Café Dunkel« drei schwarze Kaffeetassen auf gelbem Grund zeigt. Ein Blindencafe! Eine kleine, freundliche Dame namens Inge erklärt sich bereit, mich durch das Objekt zu führen, dessen Inneres finsterer ist als das Universum vor der
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