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Santiago liegt gleich um die Ecke

Santiago liegt gleich um die Ecke

Titel: Santiago liegt gleich um die Ecke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Albus
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Sache allerdings unheimlich. Weiter! Es ist zwar erst zehn nach eins, aber ich will lieber einen kleinen Vorsprung rausholen, wer weiß, wofür’s gut ist. Kilometer machen!
    Langsam bekomme ich Froschfüße. Der Rucksack drückt wie das schlechte Gewissen den Mörder in einem alten Derrick-Krimi. Durstig bin ich auch. Ganz
schlecht: Vor ein paar Kilometern bin ich an einer Tankstelle vorbeigegangen! Als nach ein paar Minuten völlig unvermutet ein Kiosk vor mir auftaucht, staunen die Verkäuferin und ich, wie viel Wasser in meine kleine Feldflasche geht.
    Entlang einer weit geschwungenen Bahntrasse arbeite ich mich auf die A45 zu; etwas südlich der Abfahrt Dortmund-Hafen habe ich auf meiner Karte eine Stelle ausgemacht, an der ich dieses Hindernis passieren kann. Wow, schon 13 Kilometer! Mein Handy klingelt. Meine Frau spricht mich auf einen Stapel ungeöffneter Briefe an. Zum Telefonieren muss ich mich an einem Geländer anlehnen, sonst falle ich hintenüber. Egal! Weiter! Aus dem Dunst, noch ganz klein am Horizont, schälen sich jetzt allmählich Gebäude, die ein wenig an New York ohne Wolkenkratzer erinnern: Dortmund! Bald darauf werden die Straßen städtischer, die Häuser höher, meine Beine schwerer, meine Schultern steifer. Bei einem Blick auf meinen Tacho muss ich schlucken: Fast 20 Kilometer geschafft! Blöd ist nur: Ich hatte mir vorgenommen, allerspätestens zu dieser Gelegenheit wieder eine Pause zu machen, aber ich habe keinen Bock, mich auf den staubigen Bürgersteig zu setzen. Und andere Rastgelegenheiten gibt es nicht. Ich laufe weiter.
    Ich habe keine Ahnung, wie man sich als Pilger benimmt oder was von einem solchen erwartet wird.
    Ich bin mitten in der Stadt. Graue Straßen, überall parkende Autos und Leute, die aus Fahrzeugen ein-und aussteigen, selten mal jemand, der nur herumsteht – und wenn doch, dann sieht er aus, als wolle er mir gleich Drogen verkaufen. Ich halte meinen Pilgerstab wie einen Prügel in der Hand, statt ihn fröhlich auf dem Asphalt klacken zu lassen. Blödes Ding! Warum hab’ ich mich damit belastet? Wie sieht das
überhaupt aus? Aber als ich mich später an einer Baugrube vorbeihangeln muss, wird er mir jedoch zum zweiten Mal heute nützlich: Das Loch ist so tief, als würde hier eine Abschussrampe für Atomraketen gebaut. Daneben ist eine Pfütze, in der man Koi-Karpfen züchten könnte. Ich habe trotzdem keine Lust, wegen dieses blöden Lochs einen Umweg zu machen. Auf den Stab gestützt, komme ich gut dran vorbei.
    Nanu, plötzlich wieder grün? Muss der Dortmunder Westpark sein. Alle Achtung: Mit dem Zug brauche ich bis hierhin eine halbe Stunde! O. K.: Dafür wanke ich mit meinem Rucksack inzwischen durch die Straßen wie Godzilla durch Tokio. Egal – ein paar Hundert Meter später passiert’s: Am Fußgängerüberweg vor dem Platz Der Alten Synagoge entdecke ich plötzlich, weswegen ich gekommen bin! An einer Ampel prangt das offizielle europäische Jakobsweg-Symbol mit der Unterschrift »Pilgerweg« – eine stilisierte gelbe Muschel auf blauem Grund. Ich bremse so abrupt, dass mir jemand in den Rucksack läuft. Er wirft mich fast um – ich kann nämlich kaum noch stehen.
    Jetzt ein Hotel suchen, oder? Nein – da war doch noch was … was Wichtiges: Stempel! Nur woher? Ich bin zu schlapp, meinen Pilgerführer aus dem Rucksack zu ziehen – dazu müsste ich das Ding abnehmen. Und der fühlt sich inzwischen an, als hätte er sich festgebissen; außerdem weiß ich nicht, ob ich ihn dann noch einmal aufsetzen könnte. Also gehe ich aufs Geratewohl auf das »Katholische Zentrum« zu, einen rot geklinkerten Bau neben der Kirche. Bevor ich eintrete, zögere ich allerdings etwas. Das Problem: Ich bin weder katholisch noch überhaupt Mitglied irgendeiner Kirche. Ich habe keine Ahnung, wie man sich als Pilger benimmt oder was von einem solchen erwartet wird. Ich lege mir einen Spruch zurecht.
Irgendetwas mit Selbstfindung und als Soße oben drüber etwas Lauwarmes in der Art: »Sind wir in Europa nicht alle irgendwie Christen …«. In einem langen Flur hinter einer Glastür erwische ich jemanden, der gerade eine Bürotür hinter sich abschließen will: Ein Mann mit leicht traurigem, aber doch aufgewecktem Blick, leicht angepunkter Frisur, nur ein paar Jahre älter als ich. Er wirkt kein

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