Santiago liegt gleich um die Ecke
tue, wird es wert sein, übrig zu bleiben. Das, was bleiben wird, wenn ich einmal tot bin, wird die Liebe sein, die ich meinen Freunden und allen anderen gegeben habe. Und mit etwas Glück das Herzblut, das ich in die Dinge stecke, denen ich meine begrenzte Zeit widme. Klar â auch das wird
nicht lange halten. In ein paar Tausend Jahren spätestens wird das letzte Blatt Papier mit Buchstaben von mir verwittert sein; CD-ROMs kann man schon in ein paar Hundert Jahren vergessen â wenn es dann überhaupt noch Computer geben sollte, die Word-Texte entschlüsseln können. Seltsamerweise war das genau der Inhalt des Buches, das ich eingesteckt, aber ungelesen in Altenberg zurückgelassen hatte. Ich muss mich entscheiden â Ja! Für mich, für mein Leben, für meine Freunde. Ein paar Jahre nach meiner Beerdigung wird niemand sagen: »Der hat den Börsenwert seines Unternehmens um 0,00036% gesteigert«. Aber: »Der hat meinem Vater mal aus der Patsche geholfen« â daran wird sich vielleicht irgendjemand erinnern. Jajaja, das ist kitschig. Von mir aus. Aber für mich fühlt es sich nun mal wahr an.
Und jetzt? Monika hat mir gestern erzählt, dass sich auch nach der Heimkehr vom Jakobsweg noch einiges tue. Offen bleiben sei das allerwichtigste. Ich bin gespannt, ob das stimmt. Ich blicke jetzt nach vorn. Jetzt bin ich sicher: Nichts mehr kann mir etwas anhaben. Ich trage eine goldene Rüstung. Ich habe das Skelett der Welt gesehen. Und weià jetzt, was von mir bleiben wird. Darauf kann ich mich einstellen. Mein Gott, was tun mir die Leute leid, die das noch nicht gerafft haben.
Auf dem Tisch in meiner Zelle fällt mir mein Glückskeks-Spruch aus Neuerburg ins Auge: Jetzt ist die Zeit, etwas Neues auszuprobieren. Mein Herz setzt ein paar Schläge aus. Ich fühle mich unglaublich schlapp, aber auch glücklich, als hätte ich bei einem Champions-League-Spiel den Siegtreffer erzielt.
Abends gehe ich noch einmal in die Stadt. Ich setze mich in das Restaurant, in dem ich gestern mit Maria und Monika gegessen habe. Ich fühle mich unglaublich
allein. Der Typ mit der Gitarre ist auch nicht da. Es wird Zeit, dass ich nach Hause komme.
Aber erst gibt es noch eine Belohnung. Das Heilig-Rock-Festival mag ja kein Musikfest sein, aber Konzerte gibt es trotzdem: Heute Abend hat sich im Dom ein Chor angekündigt. Ich finde mich rechtzeitig ein, um noch einen guten Platz zu bekommen. Es ist noch früh, aber ich habe ja Zeit. Zeit ist auch etwas, was ich mitnehme von dieser Reise: Keine Zeit gibt es nicht. Nur falsche Prioritäten. Irgendwann baut sich der Chor auf. Die Orgel setzt ein. Und ich könnte laut lachen vor Glück, als mir zwischendrin auffällt, dass ich wieder in die Musik eintauchen kann. Wie gut ich einzelnen Tönen folgen und mich daran festhalten kann, so lange sie erklingen, und sie loslassen, sobald sie für neue Platz machen, so gelassen und ruhig bin ich. Wie ich das vor langer, langer Zeit einmal war.
Nach dem Konzert habe ich eine Idee. Der Ordner vor der Domschatzkammer winkt mich tatsächlich nur müde durch â schon wieder ein Problem, das sich von selbst gelöst hat! Ich komme in einen Raum, in dessen Mitte eine groÃe Holzkiste in einem Glasschrein liegt. An seinen Ecken sind riesige Kristalle angebracht, darüber hängt ein Kruzifix und eine Art Mobile aus Ikosaedern. Eine düstere Symbolik wie auf einem Heavy-Metal-Albumcover â ich kann sie nicht entschlüsseln. Der Heilige Rock ist auch nicht zu sehen â er muss in der Kiste sein. Aber eigentlich interessiert er mich auch gar nicht. Viel spannender finde ich die Leute, die um den Schrein herum stehen, kein Wort sagen, irgendwann an das Ding herantreten und sich demütig und in aller Stille verneigen. Genau so mache ich das auch, bevor ich gehe.
Statt eines Nachworts: Bonustrack â Tür zu und los
Montag, 6. April 2009
Heiligemuttergottes: Mein Rucksack ist so schwer, dass er mich wie eine ReiÃzwecke in den Boden drückt. Zu allem Unglück bin ich schon seit sieben Uhr wach â nach vielleicht zwei Stunden Schlaf â und wäre daher eigentlich schon von einer Packung Taschentücher auf dem Rücken überfordert ⦠Egal: Jetzt geht es los! Ich habe mir tatsächlich eine Muschel an den Rucksack gebunden. Einen Hut aufgesetzt. Meine Hand um einen Wanderstab geschraubt. Meine Haustür hinter mir zugezogen. Jetzt
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