Santiago liegt gleich um die Ecke
bin ich auf dem Weg. Zu FuÃ. Mitten im Ruhrgebiet . Vor mir liegen etwa 400 Kilometer, einige davon werden mich durch die einsamsten Gegenden Deutschlands führen.
Immerhin: Die ersten Kilometer laufen sich überraschend leicht. Die Strecke kenne ich natürlich: eine VorortstraÃe, die mich über etwa zwei Kilometer bis in den Nachbarort führt. Eine ältere Dame, die am StraÃenrand auf einer Mauer sitzt, amüsiert sich über die kleine LED-Laterne, die ich für alle Fälle hinten am Rucksack festgemacht habe, direkt über meinem Mini-Zelt. Sonst guckt eigenartigerweise niemand. Egal: Das Wetter ist O. K. â für einen April sogar sehr gut. Trotz der ungewöhnlich milden Temperaturen habe ich sicherheitshalber einen Pullover angezogen â man weià ja nie! Er besteht aus einem Hightech-Gewebe, mit dem man angeblich sogar in einem Blizzard trocken und warm bleibt. Leider trägt er sich inzwischen wie ein nasses Handtuch. Aber das liegt nicht nur an der Wärme: Ich bin aufgeregt wie
bei meiner ersten Fahrstunde! Bin ich jetzt ein Pilger ? Nun, so ganz sicher bin ich mir da nicht. Das hier ist schlieÃlich noch nicht der Jakobsweg. Der verläuft etwa 20 Kilometer östlich meiner Wohnung durch Dortmund. Um da zu Fuà hinzukommen, habe ich einen geschlagenen Tag über topografischen Karten gegrübelt und versucht, halbwegs elegante Haken um Autobahnen und Eisenbahntrassen zu schlagen und mir gleichzeitig das eine oder andere landschaftliche Highlight zu erschlieÃen. Eine Mondrakete konstruieren stelle ich mir einfacher vor â¦
Im September 2010 wird übrigens ein Teil meiner selbstgebastelten Trasse von Experten der Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe doch noch zum Jakobsweg erklärt und ausgeschildert werden â so schnell wächst das Wegenetz derzeit! â, aber das ahne ich an diesem Montag natürlich noch nicht. An einer kleinen Abraumhalde wirdâs ernst: Wie weggehext plötzlich alle Häuser, und da, wo eben noch StraÃen und Parkplätze waren, ist plötzlich nichts mehr . Gar nichts â nur noch Felder und Wiesen bis zum Rand der Welt. Letzter AuÃenposten meiner bislang bekannten Umgebung ist ein Bauernhof, um den ich gelegentlich mit dem Hund spazieren gehe. Ich war noch nie zu Fuà hier! , denke ich plötzlich. Dann biegt mein Weg um die Ecke â und der Hof ist auch weg. Holla: So müssen sich vor 500 Jahren Leute gefühlt haben, die ihre Heimat endgültig hinter sich lassen, um in der Fremde ihr Glück zu suchen! Hier habe ich a) eine Gänsehaut, b) Knie weich wie Krakenarme und c) zum ersten Mal das Gefühl, dass die Sache mit der Pilgerei ernst werden könnte. Ich verlasse die Zivilisation! Keine 100 Meter weiter muss ich sogar einen Bach überqueren â ohne Brücke, wohlgemerkt! Nur ein paar wackelige Ãste liegen im Wasser. Geil! Wie im Mittelalter! O. K.: Das Rinnsal ist so seicht, dass wahrscheinlich nicht mal
meine Knöchel nass würden, wenn ich daneben trete, aber ich habe das Gefühl, einen reiÃenden Strom zu überqueren. Ha! Indiana Jones ist nichts gegen mich! Ich mache ein Foto. Dann: Ui, hier gibt es ja einen Wald! Das Ãlbachtal â ein Naturschutzgebiet, alles ist total verwunschen und zugewachsen, gleich kommen garantiert Frodo und Gandalf um die Ecke. Vier Kilometer von zu Hause! Wahnsinn! Ich folge einem Trampelpfad. 500 Meter weiter finde ich den Waldboden bedeckt von einem Blütenmeer. Keine Ahnung, was das für Pflanzen sind. Ich mache noch ein Foto.
Was für ein hübsches Schloss! Graue Steine, Türme mit grauen Schieferdächern, rote Ziegel auf dem Dach des Haupthauses: Das Haus Dellwig liegt mitten in einem lauschigen Bachtal, schön eingepackt in einem eigenen Naturschutzgebiet. Ich umrunde das Gebäude; die letzte freie Bank davor wird mir von zwei alten Herren weggeschnappt, die dafür extra ihren Jahres-Temporekord im Walken brechen. Egal â im Innenhof ist es auch schön. Pause! Schuhe aus! Schokoriegel ans Licht, Feldflasche austrinken. Einfach nur herumsitzen. Den nächsten Riegel raus. Hinter mir schnattert eine dicke Ente, die sich nach einem Schulterblick als Graugans entpuppt. Egal â ich mache eine Weile die Augen zu und höre dem Flattern, Rascheln und Zwitschern zu, spüre die Wärme der Sonne in meinem Gesicht, bekomme mit, wie der Wind meine Haare zaust. Dann wird mir die
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