Santiago liegt gleich um die Ecke
bisschen sauer, dass ich ihm seinen Feierabend torpediere, sondern begrüÃt mich, als stünde ich mit einer Flasche Riesling vor seiner Haustür. Er führt mich in ein Sekretariat, so leer wie ein Lehrerzimmer zu Weihnachten, kramt einen Stempel hervor, und während er eine Jakobsmuschel in meinen Pass drückt, versuche ich mir etwas Passendes für das Gästebuch auszudenken. Das Ding sieht aus, als hätten zwei Jahre lang alle Graffiti-Künstler Dortmunds ihre Farbreste darauf ausgeleert â ich hätte eher was Gediegenes in feinem, schwarzem Leder erwartet. Der letzte Eintrag ist zwei Tage alt.
»Sie beginnen ihren Weg hier?« »Ja, wenn ich morgen wieder laufen kann â¦Â« Ich frage meinen Samariter noch nach einem günstigen Hotel, dann führt er mich nach drauÃen, zeigt auf ein Gebäude gleich in der Nähe und wünscht mir einen guten Weg. Ich fühle mich wie ein Kind, das gerade mit einem Klaps auf den Hintern zum Sandkasten geschickt wird.
DrauÃen mache ich mir Gedanken. Irgendwie ist mir peinlich, wie einfach das alles war. Keine Frage, ob ich überhaupt katholisch wäre oder dergleichen. Meinen Spruch habe ich nicht gebraucht. Seltsam: Irgendwie habe ich das Gefühl, dass dieser Mann eben mehr für die katholische Kirche getan hat als alle Bischofskonferenzen, von denen ich bislang lesen durfte. Und den komischen Eindruck, ihn getäuscht zu haben, weil ich ihm meinen Spruch mit den Europa-Christen reindrücken
wollte. Später finde ich heraus, dass sich das Dortmunder Katholische Forum als Ort für Menschen versteht, die »auf der Suche sind«, sich enttäuscht von der Kirche abgewandt und zu Gottesdiensten keinen Zugang mehr haben, die eine spirituelle Sehnsucht kennen, sich aber in ihrer Ortsgemeinde nicht beheimatet fühlen. »Wir möchten Menschen ermutigen, ihren eigenen Weg zu finden, ohne fertige Antworten geben zu wollen« , lese ich Wochen später auf der Forum-Webseite. Kein schlechter Ort, um eine Pilgerreise zu beginnen.
Die Jugendherberge hat den Resopal-Charme einer Provinzklinik. O. K., ist nicht das Hilton, aber ich bin ja nicht auf Dienstreise hier. AuÃerdem würde ich dem Typen am Tresen schon die Hände küssen, wenn er mich an einem Kleiderbügel in eine Abstellkammer hängen würde. Mein Zimmer hat einen PVC-Boden und ein winziges Bett â das ist es im Wesentlichen. An der Decke hängt eine Energiesparlampe, die ein graues Anatomiesaal-Licht abgibt. Immerhin: Die Kammer hat eine Dusche. Ein Vorhang oder ähnliches gehört offenbar nicht dazu, statt einer Duschschüssel gibt es nur eine gekachelte Vertiefung im Boden. Trotzdem kommt mir die muffige Installation schöner vor als ein in regenbogenfarben beleuchteter Whirlpool voller Eselsmilch ⦠Ich beziehe in aller Ruhe mein Bett, haue meine verschwitzten Klamotten mit Rei in der Tube ins Waschbecken â was etwas schwierig ist, weil es keinen Stöpsel hat â und mich danach erst einmal auf die Matratze; ich falle in die Bettwäsche wie in ein sommerwarmes Mohnfeld.
Gegen sieben raffe ich mich noch einmal auf, schleppe mich in ein Lokal und wanke schon eine Stunde und ein fettes Schnitzel später zurück in meine Unterkunft. Das war also der erste Tag. Bin ich jetzt ein
Pilger? Eigentlich wollte ich in Dortmund etwas mehr unternehmen. Mich belohnen für die über 20 Kilometer, die ich heute unter meine Schuhe genommen habe, mit fast 18 Kilo Gepäck auf dem Rücken. Nachdenken über das, was ich gesehen habe und über das, was noch vor mir liegt. Genau genommen habe ich die letzten Meter nur mit dem Gedanken an ein kühles Glas Weizenbier in einem belebten StraÃencafé überlebt. So viel bin ich noch nie in meinem bewussten Leben am Stück gelaufen. Und jetzt? Fühlen sich meine Schultern an, als hätte Dumbo drauf gesessen. Ich bin so müde wie ein fast verblichener Buchstabe am Ende eines langen Satzes.
Auf dem Weg zurück zu meiner Herberge sehe ich die Gebäude, die ich vor Stunden am Horizont entdeckt hatte. Da waren sie winzig wie kleine, verkohlte Pommes Frites. Jetzt muss ich den Kopf in den Nacken legen, um sie ganz zu sehen. Irgendwo begegne ich meinem Stempel-Pfarrer. Er erkennt mich sofort. Gibt mir die Hand. Fragt, ob alles geklappt hat. Ich weià nicht, was ich sagen soll. Aber irgendwie wird mir bewusst: Aber jetzt hat mich der Jakobsweg in seinen
Weitere Kostenlose Bücher