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Santiago, Santiago

Santiago, Santiago

Titel: Santiago, Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Aebli
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und touristischem Treiben, die man in vielen berühmten Kirchen findet. Die Ankunft muß sich in unserem Inneren ereignen.
Es ist schon fast dunkel, und die hohen Gewölbe wirken eher düster. Aber in uns ist es jetzt hell geworden: die Freude, am Ziel zu sein, nicht an irgendeinem Ziel, sondern an einem Ort, der die Menschen Europas, auch unsere eigenen Vorfahren, über Jahrhunderte angezogen hat und der ihnen, die sie erschöpft und Hilfe suchend angekommen sind, neue Kraft und Hoffnung verliehen hat. Ihre und unsere religiösen Vorstellungen waren nicht die gleichen, wohl auch nicht ihre und unsere Form des Suchens und die Bedeutung, die sie und wir der Reise hierher gegeben haben. Aber gewandert sind wir allzumal, und unsere Erlebnisse müssen sich mindestens zum Teil geglichen haben, auch das Erlebnis des Ankommens und des Am-Ziele-Seins.
Es geht jetzt nicht darum, die Kirche zu »besichtigen«. Wir gehen dem Kirchenschiff entlang zum Westtor. In der Vorhalle grüßt Meister Mateos Bild des Apostels die ankommenden Pilger. Er sitzt unter der Christusfigur auf einer schlanken Säule in der Mitte des großen, figurengeschmückten Torbogens, in der einen Hand eine Schriftrolle, in der anderen den Pilgerstab, und blickt gespannt und doch natürlich, mit weit offenen Augen auf die Menschen hinunter — und durch sie hindurch in die Ewigkeit.
Seit Jahrhunderten haben die Pilger die Hand an die Säule unter dem Apostel gelegt. Auch wir führen die Geste aus. Dann gehen wir langsam zum Altar hin, dessen Mitte wiederum eine Figur des Apostels einnimmt. Wir müssen von seiner barocken Umgebung absehen, die nicht unseren Empfindungen entspricht. Auch seine weit geöffneten Augen wirken auf uns fast unheimlich. Aber man kann über eine enge Treppe hinter die Figur aufsteigen und den Apostel aus der Nähe grüßen. Das tun wir auch. Seine Gebeine sollen in der Krypta unter dem Altar liegen; dieses Problem lassen wir für heute auf sich beruhen.
Wir setzen uns für einige Augenblicke still in eine Kirchenbank, danken dem himmlischen Vater, daß er uns auf der langen Reise behütet hat, und bitten, daß er es weiterhin tun wolle. Dann treten wir mit unseren Rucksäcken durch das Südtor hinaus in die Hauptgasse der Altstadt. Auf dem Vorplatz strömt wie eh und je das Wasser aus den vier Röhren des alten Brunnens, sonst ist die Gasse still und fast menschenleer.
Genug für heute. Wir nehmen von Herbert Abschied — wir sind uns in den letzten Tagen nahegekommen — und begeben uns still und innerlich gelöst zum Gasthaus.
     

Abschied von Santiago
 
Am nächsten Morgen trommelt der Regen auf das Glasdach des Lichthofes vor unserem Fenster. Wie wir aus dem Gasthaus treten, hat der Wolkenbruch noch nicht nachgelassen, und er wird noch den größten Teil des Tages andauern. Herbstwetter in Galizien.
Wir drücken uns wie die Santiager den Hauswänden entlang und retten uns immer wieder in die Torbögen der alten Häuser. Kein Wetter für Stadtbesichtigungen. Auch sonst wollen wir nur das Nötigste erledigen. Drei Monate Abwesenheit von zu Hause sind eine lange Zeit. Wir möchten heim.
Aber unsere gestrige Ankunft war doch eine zu späte, als daß wir alles hätten in unser Bewußtsein aufnehmen können, was zum Abschluß einer Pilgerreise gehört. Wir wollen zur Kathedrale zurück und sie noch einmal ansehen. Auch das Pilgerbüro möchten wir aufsuchen und um die Urkunde bitten, die den Santiago-Pilgern zusteht. Wenn die Zeit reicht, wollen wir im berühmten Hospital de los Reyes católicos die Gratismahlzeit einnehmen, die noch heute den Pilgern gespendet wird, die die Reise zu Fuß absolviert haben. Am folgenden Morgen werden wir in die Heimat zurückfliegen.
Wir kehren also zur Altstadt zurück. Der Verkehr zwängt sich immer noch durch die Straße, die über dem alten Stadtgraben angelegt ist. Aber sobald man in die Gassen eintritt, werden die Lebensrhythmen menschlich. Die deutschen Touristen, mit Brille und Kleppermantel, lesen im Fremdenführer nach; die Engländer haben ihre karierten Schirmmützen aufgesetzt, ihre älteren Gattinnen die Plastikhäubchen über die violett gebläuten Haare gebunden. Die Studenten, die am Abend das Bild der Altstadt bestimmen, sind jetzt in den Vorlesungen.
Durch die Arkaden der Hauptgasse streben wir wiederum der Kathedrale zu. Die Häuser und die Ladengeschäfte sind hier von konservativer Gediegenheit. Der Geist des nahen erzbischöflichen Palastes strahlt auf seine Umgebung aus. Die

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