Santiago, Santiago
großzügigen Linien der hohen, nervigen Stämme und der langen, aufragenden Äste, das geheimnisvolle Silbergrün der hängenden Sichelblätter und der scharfe Geruch der narbigen Früchte. Sollten wir ihn nicht willkommen heißen? Wir haben aufgehört, den »deutschen Wald« zu besingen und wollen nun an seiner Stelle wohl nicht den Kult des »europäischen Baumes« errichten.
Wir kommen durch weitere namenlose Dörfer. Die Häuser sind aus dem gleichen grauschwarzen Naturstein gebaut, den wir seit Tagen beobachten. Überwachsene Mauern begleiten den Weg, die Gärten sind mit großen, in den Boden gesteckten Steinplatten abgegrenzt. Die Menschen, die hier wohnen, sind arm. Ihre Brüder und Schwestern arbeiten in Mitteleuropa als Fremdarbeiter.
Aber es gibt Unterschiede in der Bewältigung der Armut. Am Rand eines Dorfes entdecken wir einen Waschtrog, dessen Konstruktion uns durch seine einfache Zweckmäßigkeit beeindruckt. Das Becken ist in den Boden eingelassen. Es ist in einen großen, rechteckigen Stein mit einem schönen Ausguß gemeißelt. Das Wasser wird vom nahen Bach eingeleitet. Links und rechts vom Becken sind zwei quadratische Platten schräg aufgestellt. Hier wird die Wäsche gerieben und geschlagen. Die Frauen knien bei der Arbeit. Das kommt ihren natürlichen Bewegungen entgegen und ermöglicht den Einsatz des ganzen Körpers, eine Jahrhunderte alte Waschtechnik.
Wir kommen auch durch Gassen hoffnungsloser Armut. Der Boden ist mit modernem Unrat bedeckt, mit Plastikresten, Stoff- und Papierfetzen und mit undefinierbaren Bestandteilen von weggeworfenen billigen Geräten. Menschen treffen wir hier kaum an.
In Salceda gibt es an der Straße eine Handlung mit »Bar«. Wir haben eine Pause verdient und treten ein. Ob es zum Café con leche etwas zu essen gebe? Ja, Käse und Brot. Das ist uns recht. Die junge Wirtin bringt uns ein Brot und einen Blechteller mit einer eingegossenen gelben Masse und fordert uns auf, herauszuschneiden, soviel wir gerne möchten. Es ist guter junger Käse. Ob sie ihn selber gemacht habe, möchten wir wissen. Aber sicher, antwortet die Frau, es sei einfach. Man gebe etwas Lab in die warme Milch und lasse sie scheiden. Dann gieße man die Schotte ab und lasse die Käsemasse in den Blechtellern erkalten. Die Berechnung der Konsumation ist ebenso unkompliziert. Die Wirtin hat den Teller vorher gewogen, und sie wägt ihn wieder, nachdem wir fertig sind. Die Differenz ergibt den Preis.
Beeindruckt und nachdenklich über unsere Verpackungszivilisation wandern wir weiter. Das Wetter hat sich verschlechtert, es regnet fast kontinuierlich. Aber wir sind nun auch in der Nähe des Flughafens von Santiago. Wenn wir wüßten, ob es hier einen Autobus gibt! Wir erkundigen uns in einer neuen Gaststätte. Den Autobus gibt es wohl, aber es ist nicht sicher, ob er heute verkehrt, denn es ist ein kirchlicher Feiertag, von dem wir nichts gewußt haben.
Wir haben kein Glück mit dem Bus. Am Straßenrand warten wir lange auf sein Kommen, und er kommt nicht. Wie wir aber in der Gaststätte die Zeit bis zur nächsten möglichen Ankunft verbringen, fährt er draußen, ohne anzuhalten, vorbei, und wir können ihm nur noch nachsehen. So bleibt nur das Taxi. Die Wirtin hilft uns eines finden, und nach einigem Herumtelephonieren und weiterem Warten fährt es vor.
Galizische Taxifahrer sind kontaktfreudige und tüchtige Männer, jeder sein eigener Meister. Das Kapital zur Gründung ihres kleinen Unternehmens haben sie meistens als Gastarbeiter in Mitteleuropa verdient. In ihrer Heimat gelten sie als die erfolgreichen unter den Heimkehrern. So auch unser Fahrer. Er weiß viel über das Land zu erzählen und schätzt seine Möglichkeiten und Grenzen mit realistischem Blicke ein.
Bald erkennen wir die Anlagen des Flughafens, und dann kommen wir in ein Dorf, das schon einem Vorort von Santiago gleicht: einige neuere Häuser, Kleingewerbe, eine Garage. San Marcos. In seiner Nähe soll sich der Monte del Gozo befinden, »der Berg der Freude«, jener Punkt, von dem aus man zum ersten Mal die Türme der Kathedrale des heiligen Jakob erkennen kann. Diesen Berg wollen wir ersteigen und von ihm aus zu Fuß in die Stadt und zu Sankt Jakob wandern. So verabschieden wir uns vom Taxifahrer und nehmen den Weg ein letztes Mal unter die Füße.
Der Pilgerweg führt von der Hauptstraße weg und aus den Häusern von San Marcos hinaus, durch ein unbestimmtes Gelände von ehemaligen Weiden, die heute von immergrünem, zähem
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