Santiago, Santiago
der mit Papieren bedeckt ist. Er muß im Hause eine wichtige Stellung einnehmen. Ich deute an, daß ich, in einem durchaus weltlichen Bereich, meinerseits eine Lehrfunktion ausübe und trage ihm unser Anliegen vor.
Im Ton seiner Rede klingen Zeichen kollegialer Verbundenheit an. Er äußert Anerkennung für unsere dreimonatige Fußreise und verspricht, uns zu helfen. Er werde gerade mit uns kommen. Im strömenden Regen überquert er mit Verena unter seinem großen Schirm den Vorplatz der Kirche. Ich eile, den Pilgerführer über dem Kopf haltend, hinterher.
Wunderbarerweise ist jetzt das Pilgerbüro offen und der junge Angestellte im Dienst. »Wenn der Meister selber kommt...« Aber dieser will die Sache nun persönlich in Ordnung bringen. Wir werden ins große Pilgerbuch eingetragen, müssen unsere Personalien, die Einzelheiten unserer Reise angeben und sagen, welche Motive uns zu unserem Unternehmen bewegt haben. Das ist zwar nicht so leicht zu sagen, wenn man etwas von bewußten und unbewußten Triebfedern der menschlichen Seele weiß, und dazu noch in einer Fremdsprache. Aber während der junge Sekretär die Spalten des großen Buches ausfüllt, gelingt es mir, mit Hilfe der Angaben meiner Vorgänger eine Formel zu finden, die den jungen Statistiker ebenso wie seinen Meister befriedigt. Wie weit sie allerdings unsere komplexen Motive deckt, muß ich offenlassen. Dann ist es soweit: der Meister füllt das lateinische Dokument eigenhändig aus. Es ist ein langer Text, dessen Kernsatz lautet:
... omnibus et singulis praesentes inspecturis notem facio Joannem et Verenam Aebli hoc sanctissimum Templum pietatis causa devote visitasse.
Er datiert das Dokument mit »die 13 mensis octobris anno Domini 1988«, setzt seine schwungvolle Unterschrift darunter und verabschiedet sich freundlich.
Wie wir im Gehen das Dokument lesen, fragen wir uns, ob wir es wirklich verdient haben. Sind wir »pietatis causa« gewandert? Haben wir die Stätte Jakobs »devote« besucht? Wir wissen es nicht sicher. Aber wenn unserem Unternehmen auch seine Unvollkommenheit anhaftet, so entspricht sie wohl der Unvollkommenheit aller menschlichen Dinge. Wenn wir uns ihrer nicht bewußt gewesen wären und wenn uns nicht die Sehnsucht nach einem Besseren und Wahreren getrieben hätte, so wären wir nicht aufgebrochen.
Welches Fazit also aus der Reise ziehen? Hat sich in uns etwas verändert? Was? Sicher sind wir keine besseren Menschen geworden. Auch der Gedanke, daß wir uns irgendein Verdienst erworben hätten, liegt uns fern.
Aber wir haben eine Reise nachvollzogen, die für Hunderttausende von mittelalterlichen Menschen die bedeutsamste Erfahrung ihres Lebens gewesen ist. Diese Menschen verstehen wir heute besser und tiefer, nicht nur, weil wir wie sie gewandert sind und wie sie Hitze und Kälte, Wind und Regen erduldet haben, sondern auch darum, weil wir durch die gleichen Gassen und über die gleichen Brücken wie sie gegangen sind und weil wir die Kirchen gesehen haben, zu denen sie hingeströmt sind. Wir haben dies nicht mit den gleichen Augen getan, aber wohl auch nicht mit ganz anderen.
Auf diese Weise haben wir mehr als ein Stück historisches Verständnis gewonnen. Ich habe es mehrmals gesagt: Wir tragen unsere Vergangenheit, auch das Mittelalter, unbewußt in uns. Diese Tiefenschicht unseres Selbst haben wir besser und tiefer verstehen gelernt.
Für den westlichen Menschen ist es wichtig, dies zu versuchen, welches immer seine Konfession ist, auch für den Protestanten. Denn er trägt in sich noch heute die Spuren und Narben des reformatorischen Ablösungsprozesses vom Mittelalter und seiner Kirche. Sie lassen ihn diese in der Regel nur geschichtlich und kunsthistorisch, nicht aber theologisch und philosophisch als seine Mutter und Lehrerin sehen.
Um einen Zugang zu dieser verschütteten Vergangenheit zu finden, ist es vielleicht gut, wenn er das Mittelalter und seine Religiosität einmal in der Perspektive des einfachen Menschen betrachtet — und dies nicht nur lesend und denkend, sondern in einem Akt des konkreten Nachvollzugs. Da bleibt nicht viel von einem Bild der Finsternis. Das Mittelalter wird plötzlich menschlich, und wir sind überrascht über seine Nähe zu unserem Erleben, zum Beispiel vor den Figuren der Kirchenportale von Moissac, von Carrión de los Condes und von Santiago.
Aber wir sind nicht nur aus Motiven der Vergangenheitsbewältigung gewandert. Wir haben auch den Versuch unternommen, während dreier Monate
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