Santiago, Santiago
Universität mit ihren 30 000 Studenten, die einen säkulareren Geist atmet, befindet sich auf der anderen Seite der Stadt.
Die Steinplatten des Vorplatzes der Kirche glänzen im Regen. Die Bettler haben sich in das Innere der Portale zurückgezogen. Das Südportal mit seinen verwitterten Figuren wirkt archaischer als Meister Mateos Portico de la Gloria. Seine naiven Figuren haben sich im Verlaufe der Jahrhunderte auf die wesentlichen Formen reduziert. Was sie noch sagen, das sagen sie direkt und lapidar.
Die Kirche ist auch am Tage eher düster. Die kleinen oberen Fenster vermögen sie an einem Regentag nicht zu erhellen, und die unteren sind durch die Anbauten verstellt, die die Kathedrale auf allen Seiten umgeben. Um das Jahr 1130 muß das noch anders gewesen sein, denn Aimeric beschreibt die Kirche so:
»In eadem vero ecclesia nulla scissura, vel corruptio invenitur: mirabiliter operatur, magna, spaciosa, clara, magnitudine condecenti, latitudine, longitudine et altitudine congruenti... Qui enim sursum per naves palacii vadit, si tristis ascendit, visa obtima pulcritudine ejusdem templi, letus et gavisus efficitur.«
»In dieser Kirche findet man weder Spalt noch Schaden: sie ist wunderbar gebaut, groß, geräumig, hell und von harmonischen Maßen. Breite, Länge und Höhe sind im richtigen Verhältnis... Wer durch die hochgelegenen Teile geht, wird angesichts der Schönheit dieser Kirche heiter und froh, auch wenn er traurig aufgestiegen ist.«
Wir steigen in die Krypta unter dem Hauptaltar hinab. Hier ruhen in einem effektvoll beleuchteten, kostbaren Reliquiar die Reste des Apostels und seiner zwei Begleiter. Zugleich weiß man aber, daß diese Krypta in die Mauern eines römischen Grabmals hineingebaut worden und der Kathedralbezirk auf dem Gelände eines römischen Friedhofs entstanden ist. Die Kontinuität von der römischen zur christlichen Kultur ist hier ungebrochen. Nur die Einfälle der Mauren haben das Leben dieses religiösen Zentrums einige Male gestört.
Mateos Jakob sitzt immer noch auf seiner Säule. Jede Falte an seinem Gewand ist an ihrem Ort, und jede Locke seines Haupt- und seines Barthaares hat seinen Platz. Die Propheten und die Apostel, die die übrigen Säulen schmücken, stehen nicht isoliert da, sie wenden sich einander zu und reden miteinander: ein menschlicher Portikus. Die 24 Alten mit ihren Leiern, die den thronenden Christus umgeben, haben wie in Moissac die Beine übereinandergeschlagen. Sie sitzen entspannt und doch gesammelt in ihrer Reihe. Auch sie scheinen untereinander Kontakt zu haben. Das ganze Portal gleicht einem großen Bilderbuch, das den Analphabeten die Heilsgeschichte anschaulich erzählt. Es ist ein humanes Bilderbuch. Die Figuren haben etwas Lieblich-Raphaelisches, fast Weibliches an sich. Um so drastischer wirkt die Darstellung der Höllenqualen, die auch hier nicht fehlt.
Wir forschen nach dem Pilgerbüro, finden nach vielem Herumfragen seine Tür neben dem Südportal der Kirche verschlossen, kehren nach einer Stunde zurück, und kommen noch einmal wieder, ohne Erfolg. Die Jahreszeit ist weit fortgeschritten, man scheint nicht mehr mit den Pilgern zu rechnen. Das stimmt uns traurig. Wir haben drei Monate lang getreulich unsere Stempel im Pilgerpaß gesammelt und gehofft, daß diese hier nun geprüft und für gut befunden würden.
Schließlich verweist uns ein Kirchendiener auf das große Gebäude gegenüber dem Nordportal, das wir bei der Ankunft gesehen haben. Dort fänden wir wohl Hilfe, sozusagen bei der Oberbehörde des Pilgerbüros. Es scheint ein theologisches Institut zu sein. Junge Menschen gehen ein und aus, und in einer Loge sitzt ein freundlicher Mann. Er versteht unser Problem, telephoniert dahin und dorthin, ohne Erfolg. Auch er bittet uns, in einer Stunde wiederzukommen. Verena findet, so wichtig sei der Ausweis eigentlich nicht, ob wir wirklich... Aber mich beginnt das Problem als solches zu reizen. Ich möchte jetzt wissen, ob es mir gelingt, diesen Ausweis zu erwerben, auch unabhängig von seiner Bedeutung.
Also versuchen wir es nach einer Stunde wieder. Der Mann in der Loge telephoniert, und wirklich, es antwortet jemand und läßt uns zu sich bitten.
Wir werden durch lange, hohe Gänge mit Fußböden aus großen Steinfliesen geführt und klopfen an eine schwere Tür in breitem Holzrahmen. Respektvoll treten wir ein. Es ist das Arbeitszimmer eines älteren Geistlichen. Er trägt die Soutane und sitzt hinter einem großen Schreibtisch,
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