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Santiago, Santiago

Santiago, Santiago

Titel: Santiago, Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Aebli
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Gebüsch überwachsen sind. Voller Erwartung halten wir nach dem »Mons gaudii« Ausschau. Aber wir treffen keinen Berg an, nur Wellen von Hügeln und untiefen Tälern. Ich erinnere mich, daß man in der Nähe jeder großen Pilgerstadt, also auch von Rom oder Jerusalem, von einem Berg der Freude gesprochen hat, und daß es sich dabei auch einfach um einen — meist etwas erhöhten — Punkt handeln kann, von dem aus man eben die ersehnte Kirche erstmals erblickt. Es ist ja auch der Ort, wo man der »König« der Pilgergruppe werden konnte, indem man die Turmspitzen als erster entdeckte. Das Ereignis wurde von den Pilgern so dramatisch erlebt, daß der Name »König« den Betreffenden häufig dauernd blieb und als Geschlechtsname auf die Nachkommen vererbt wurde.
Es ist schon etwa sechs Uhr abends, das Warten auf den Bus und das Taxi hat uns viel Zeit gekostet. Es hat aufgehört zu regnen, aber am Himmel treiben uns graue Wolkenmassen entgegen. Manchmal dringt eine Bahn von Sonnenstrahlen durch und beleuchtet einen Ausschnitt aus dem Hügelland. Wir müssen uns wieder auf die gelben Wegzeichen verlassen, denn die Orientierung in der unmittelbaren Umgebung fällt schwer: nichts als das Auf und Ab von Hügeln und Tälchen voller Gestrüpp.
Da, auf einer kleinen Erhöhung steht am Wegrand ein Pfahl mit einer einfachen Tafel: »Monte del gozo«. Wir bleiben überrascht stehen und blicken uns um. Vor uns liegt ein etwas höherer Hügel, und wir erkennen links davon einige Dächer. Aber nichts von einer Turmspitze. Ich schaue nach rechts, auf der anderen Seite am Hügel vorbei. Auch hier einige Andeutungen von Dächern und, da, ganz rechts, wo sie hinter einer naheliegenden Baumgruppe verschwinden, drei ganz kleine Spitzen. Kein Zweifel, es sind die drei Turmhelme der Kathedrale von Santiago. Wir freuen uns über die Entdeckung. Ehrlicherweise muß ich aber gestehen, daß meine Gefühle nichts von der Überschwenglichkeit haben, von denen die Pilger früherer Zeiten berichten. Wahrscheinlich ist unsere Reise nicht beschwerlich genug gewesen, vielleicht ist auch das volkskundliche Wissen um die »Montes gaudii« daran schuld, und noch wahrscheinlicher liegen die Gründe tiefer. Das Pilgererlebnis von uns modernen Menschen ist ein anderes als das unserer Vorfahren.
Immerhin, wir sind nahe am Ziel unserer dreimonatigen Fußreise. Der Tag ist lang gewesen, und der Regen hat uns das Wandern nicht erleichtert. Aber jetzt sind wir sicher: wir werden die restlichen fünf Kilometer noch bewältigen. Leicht fällt es uns allerdings nicht, denn vorderhand wird das Gelände immer unfreundlicher. Eine Autobahn durchschneidet brutal die Hügellandschaft, dann folgen ein vages Terrain an einer Bahnlinie und noch einmal moderne Straßenanlagen, dazwischen undefinierbare Vorstadtgebäude.
Dann verdichtet sich die Besiedlung, und wir kommen an eine breite Straße mit Mietshäusern aus dem letzten Jahrhundert. Ihr Name, »Concheiros«, ist voller Erinnerungen. Sie war vor Zeiten von den Häusern der kleinen Händler gesäumt, die den Pilgern die »Conchas«, die Jakobsmuscheln, als Erinnerung an den erfolgreichen Abschluß ihrer Fahrt verkauften. Diese Straße führt an die Mauern des mittelalterlichen Santiago heran und ein Stück weit diesen entlang. Ein unscheinbares Tor läßt uns in die Altstadt ein. Es ist das Tor des Jakobsweges, »La Puerta del camino«. Wir sind jetzt in einer lebendigen Altstadt, die sich über einen flachen Hügel hinzieht. Kleine Ladengeschäfte und Wirtshäuser säumen die Gassen, die Häuser sind zwei bis drei Stockwerke hoch. Wir halten es wie der Pilger vor Zeiten und streben zur Kathedrale. Der Weg ist auch hier noch mit den vertrauten gelben Wegzeichen markiert. Wir beschleunigen den Schritt, denn unsere Gefühle sind nun doch nicht mehr ganz gleichmütig.
Jetzt kommen wir aus den Gassen auf einen leicht abfallenden Platz hinaus. Zu unserer Linken ragt die große romanische Kathedrale empor, die Kirche Jakobs. Wir sehen ihre Nordseite. Die prunkvolle, barocke Westfassade, die gegen den Hauptplatz vor der Kirche aufgezogen ist und die man auf allen Abbildungen sieht, kann man von hier aus nicht erkennen. Auf der rechten Seite des Platzes stehen barocke Gebäude aus dem 17. Jahrhundert. Von diesem Platze geht es einige Schritte hinunter zum Nordportal. Es war im Mittelalter das wichtigste, heute ist es ein Nebeneingang.
Dann sind wir in der Kirche. Niemand beachtet uns. Es herrscht jene Mischung von Andacht

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