Santiago, Santiago
dem vergleiche, was Herbert praktiziert. Dies nicht etwa, weil der »Praktiker« Dinge kann, die die Theorie noch nicht zu erklären weiß, sondern weil er Wirklichkeiten lebt und erzeugt, die wir Theoretiker nur reflektieren, zu deutsch: bloß widerspiegeln.
Herbert ist nicht etwa ein Kopfhänger. Wie wir um die Essenszeit durch Melide wandern, entscheidet seine Stimme den Beschluß, daß wir uns zum Mittagessen in eine Pulpería wagen. »Pulpo« ist geschnetzelter Tintenfisch, nicht gerade die alemannische Normalkost. Wir kommen in ein einfaches Lokal mit langen Bänken und rohen Holztischen. An einer Wand, unter einem Kaminhut, brennt ein offenes Feuer, darüber hängt an einer Kette ein grosser schwarzer Kochtopf. Darin garen sie, die Dinger mit ihren handlangen Tentakeln. Die Wirtin, eine energische, Wohlwollen ausströmende Frau mittleren Alters mit kurzer, moderner Haartracht, schöpft von Zeit zu Zeit einige von den gargekochten Viechern heraus und schnetzelt sie mit einer urtümlichen, gelenklosen Schere, wie ich sie bisher nur beim Schafescheren gesehen habe, in einen Holzteller. Dann streut sie großzügig Salz darauf und läßt Ströme von Olivenöl darüberfließen. Dann auf den Tisch damit, einige Zahnstocher zum Aufspießen der Happen dazu und ein rustikales Ringbrot daneben. Wieviel Wein wir wollten, »wenig« wehren wir ab, wir haben ja noch etwa 15 Kilometer vor uns.
-Also, dann nehmen sie von dem Liter, soviel sie brauchen.
Sie bringt einen Krug Wein und drei weiße, henkellose Tassen. Der robust-gutmütige Ton gibt uns die Zuversicht, den Berg Tintenfischtentakel in Angriff zu nehmen, und mit jedem Schluck von dem kräftigen Wein wächst auch unser Mut und die Lust an dem Pulpo-Abenteuer. Wir verlassen das Haus der Frau Wirtin in aufgeräumter Stimmung.
Die 15 Kilometer erweisen sich in der Tat als lang, aber unser galizisches Mittagessen hat nicht nur den Leib, sondern auch die Seele gestärkt und uns etwas von der unreflektierten Zuversicht der hiesigen Menschen gegeben. Schließlich erreichen wir nach einem langen Schlußstück auf hartem Asphalt das Straßendorf Arzúa und finden in einem kleinen Haus an der Straße Unterkunft. Der Tag war einer der farbigsten unserer langen Reise.
Die Stadt Jakobs, des Apostels
60. und letzter Tag: Von Arzúa nach Santiago de Compostela
Das Gasthäuslein, in dem wir übernachtet haben, liegt an der Hauptstraße nach Santiago. Es ist wohl irgendwann im letzten Jahrhundert von einem einfachen Mann mit wenig Mitteln erbaut worden. Jedenfalls haben seine leichten Mauern — und wir in den Betten mit ihnen — jedesmal gezittert, wenn ein schwerer Laster vorbeigefahren ist. Seine Böden knarren, die Messingknöpfe an den Türen wackeln, und durch die Spalten in den Böden und Wänden dringen am Morgen Kaffeegerüche und Stimmen aus der Küche und den Nachbarzimmern. Aber der Wirt und die Wirtsfrau sind freundliche Leute. Sie haben uns gestern abend ein gutes Nachtessen gekocht, und auch der Morgenkaffee, dessen Duft den Weg zu unseren Nasen so früh und direkt gefunden hat, ist kräftig und gut.
Heute nehmen wir also die letzte Etappe unserer Wanderung in Angriff, weiterhin zu dritt, denn Herbert ist im gleichen Haus wie wir untergekommen. Wir haben die Karte miteinander studiert und wissen, daß die Etappe ihre Probleme hat. Der Weg führt am großen Areal des internationalen Flughafens von Santiago und seinen technischen Einrichtungen vorbei, und das bedeutet lange Stunden in einer Umwelt, die nicht dem Geist unserer Reise entspricht. Zudem wäre es eine lange Etappe, gegen die 40 Kilometer. Wir möchten jedoch nicht völlig erschöpft am Ziel unserer Reise ankommen. So denken wir daran, irgendein Gefährt zu finden, das uns am Flughafen vorbeiführt. Wie wir das bewerkstelligen werden, wissen wir noch nicht. Kommt. Zeit, kommt Rat.
Wir wandern beizeiten aus dem Dorf hinaus. Es hat in der Nacht stark geregnet, und die Wege sind naß, stellenweise sogar morastig. Tief hängende Wolken ziehen über uns hin, aber es regnet vorerst noch nicht. Dann und wann wird sogar ein Flecken blauer Himmel sichtbar. Die Landschaft hat sich nicht verändert. Der Weg führt über immer neue Wellen von Hügeln. Nur in den Wäldern, die die Felder immer häufiger ablösen, tritt eine neue Pflanze auf: der Eukalyptusbaum. Eigentlich gehört er nicht hierher: die galizischen Seeleute haben ihn aus Australien gebracht. Aber der Fremdling hat Charakter. Mich faszinieren die
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