Santiago, Santiago
unseres Lebens anders zu leben und unsere Tage anders zu verbringen: einfacher, mit der Schöpfung tiefer verbunden, gesammelter und klarer auf das Ziel hingeordnet.
Einfacher: mit sechs Kilogramm Gepäck, essend, was wir bekommen haben, und schlafend, wo es ging. Mit der Schöpfung tiefer verbunden: die Beschäftigung mit dem Mittelalter hat uns mindestens diese Sichtweise nähergebracht. Vor dem Antritt unserer Wanderung hätten wir wahrscheinlich gesagt: »naturverbunden«...
Die Idee der Pilgerschaft gibt dem Gedanken der Einfachheit noch einen anderen, tieferen Sinn. Er hat mit Askese zu tun. Wir haben sie nicht in einem selbstquälerischen Sinne verstanden, sind ja fröhlich und ohne Mangel zu leiden, gewandert. Wir haben bloß versucht, unsere Bedürfnisse auf das Wesentliche zu beschränken. Es ist wohl kein Zufall, daß in der Vergangenheit die Mönche für die Pilger gesorgt haben: eine gemeinsame Idee der Beschränkung auf das Wenige, auf das Eine Notwendige, hat sie verbunden.
Auch in unserer modernen Welt gibt es viel innerweltliche Askese, nicht nur bei den Kalvinisten, wie es Max Weber gemeint hat. Das Problem besteht darin, den Sinn all der Disziplin und der vielen Akte des Verzichtes zu sehen. Darum die Idee der Sammlung und der Hinordnung unseres Unternehmens auf ein einziges Ziel. Es ist dem Leser wohl nicht entgangen, wie sehr uns diese Aufgabe zu schaffen gemacht hat. Der Terminkalender war zwar plötzlich wunderbar leer, aber die alten Interessen, die uns in alle Richtungen zerren, waren noch lange da, und sie haben sich bis in die Sprache dieses Berichtes hinein bemerkbar gemacht.
Hierzu hat die Lebensform des Pilgers wahrscheinlich etwas bewirkt, und dies gleichsam von außen nach innen. Jeden Tag früh aufstehen, aufbrechen und ein Stück weit dem Ziele entgegengehen. Sonst nichts. Keine selbstverfertigte Welt um sich häufen und ihre Mühlen einmal nicht klappern lassen. Mit der Landschaft allein sein, und auch sie ständig hinter sich lassen. Versuchen, den äußeren Weg auch innerlich zu gehen. Sich nicht in der Verfolgung aller möglichen Ziele verzetteln und sich von allen möglichen Motiven treiben lassen. Nur der einen, augustinischen Sehnsucht folgen und jene Stadt suchen, in der unser unruhiges Herz seine Heimat findet und die uns, auf die alte Welt zurückblickend, mit Johann Peter Hebel sagen läßt:
I möcht jetz nümme hi.
Santiago könnte für diese Stadt stehen.
Epilog: Dreizehn Fragen und zwölf Antworten
Seit wir von Santiago zurückgekehrt sind, ist nun schon mehr als ein Jahr verflossen. In unserem Berner Städtchen, dessen Bewußtsein wir als zugewanderte Zürcher bisher nur marginal berührt haben, sind wir eine Art lokale Berühmtheit geworden. Wir sind jetzt »die zwei nicht mehr ganz jungen — wo kommen sie eigentlich her? aha, aus Zürich — also der ältere Zürcher und seine jüngere Frau, die 1500 Kilometer zu Fuß gegangen sein sollen, man sagt, nach Santiago seien sie gepilgert — das ist doch in Südamerika, wie ist denn das möglich?«
Aber man soll nicht über das Nicht-verstanden-Werden in kleinen Städten klagen. In den großen ist nicht einmal jemand da, der einen mißverstehen könnte. Vielmehr soll man etwas dagegen unternehmen, zum Beispiel Bücher schreiben, die alle — nicht nur ein paar Spezialisten — verstehen.
Eine andere Wirkung unserer Reise: Verena hat keine langweiligen Gäste, und ich keine schweigenden Zuhörer mehr. Das ist so: Wenn unsere Gäste die Vorzüge von Verenas Kochkunst erschöpfend gelobt haben und der bange Moment eintritt, wo jeder nach einer weiterführenden geistreichen Bemerkung sucht, braucht Verena nur zu sagen: »Dieser stille Moment erinnert mich an den 45. Tag unserer Fußreise nach Santiago, kurz vor dem Sonnenaufgang, in der Leóneser Meseta«, und schon wird sie mit Fragen überschüttet, und die Gespräche nehmen ihren angeregten Fortgang.
Ich meinerseits fürchte den Augenblick nach der Eröffnung der Diskussion zu meinen Vorträgen nicht mehr, wo niemand die erste Frage zu stellen wagt. Ich sage dann einfach: »Die Stille in diesem Raum erinnert mich an die 51. Nacht unserer Fußreise nach Santiago, die wir im Freien verbringen mußten«, und schon sprudeln die Fragen hervor. Sie stammen aus Tiefenschichten menschlicher Interessen, die spontaner und produktiver sind als die geistigen Probleme, die der erste Teil meiner Vorträge anzusprechen sucht. Freud hätte sie wohl seinen unbewußten
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